Regina Berlinghof


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Total Out

Erinnerungen einer reaktionären 68erin

 

Es ist Mai 1998, und ergraute Achtundsechziger feiern freudig-verklärt ihre revolutionären Heldentaten. Erinnern kann ich mich auch, allerdings nur mit meinem kleinbürgerlich-individualistisch-faschistoiden Bewußtsein, das man mir damals attestierte. Denn ich war eine von jenen Reaktionären, die sich beharrlich weigerten, an die Marx/Engels/Leninschen Segnungen zu glauben und für den Klassenkampf auf die Barrikaden zu gehen. Ich las weiter die FAZ und DIE ZEIT, liebte Thomas Mann und hielt es mit dem Sisyphos von Camus statt mit Sartres Ekel. Damit war ich out.

 Meine Erinnerungen an 1968 und an meine Weigerung, auf der großen revolutionären Begeisterungswoge mitzuschwimmen, führen automatisch weiter zurück zu dem zwölf- oder dreizehnjährigen Mädchen, das sein Vater ins Kino mitnahm, um "Das Tagebuch der Anne Frank" zu sehen. Später nahm mich mein Vater auch in Erwin Leisers Dokumentarfilm "Mein Kampf" mit. Ich las dann Anne Franks Tagebuch, Kogons SS-Staat und holte mir aus der Stadtbücherei und vom Amerikahaus alles, was es an Büchern über das Dritte Reich gab, wenn sie nur einigermaßen verständlich geschrieben waren. In den Sommerferien 1961 entdeckte ich den Ferien bei den Hauswirten ein Exemplar von "Mein Kampf" und las es in großen Zügen durch.

Damals fing ich mich an zu fragen, wie das deutsche Volk in den braunen Taumel geraten konnte. War die Vernichtung der Juden nicht angekündigt? Gingen die braunen Redner und die Schlägertruppen der SA nicht mit Lügen, Verleumdung und brutaler Gewalt gegen die Feinde der Nazis vor? Sah man nicht die Primitivität und Dummheit ihrer Hetzereien? Spürte man nicht den Haß, das Ressentiment, die von den Hitlerschen Tiraden ausgingen? Gut, es gab die Entschuldigung des verlorenen Krieges. Es gab die Reparationszahlungen, die Besetzung des Saarlandes, die Weltwirtschaftskrise und die sechs Millionen Arbeitslosen in Deutschland. Und es gab die Angst vor den ähnlich brutalen und diktatorischen Kommunisten, die in der neuen Sowjetunion die Kulaken millionenweise verhungern ließen.

Aber was war mit den sogenannten Gebildeten und Intelligenten? Wie war es möglich, daß sie so blind auf die Naziparolen hereinfielen? Ich lernte aus den Büchern, daß nicht nur arbeitslose Arbeiter, sondern auch Großbürger und Akademiker in Hitler den Retter des deutschen Volkes sahen. Es gab einen nationalsozialistischen Studentenbund. Es gab einen nationalsozialistischen Bund der Hochschullehrer. Ich lernte staunend, daß Intelligenz nicht mit politischer und menschlicher Klarsicht verbunden sein muß. Was mich am meisten verwirrte: glaubten die Nazis eigentlich selbst an ihre Parolen? An die Minderwertigkeit der nichtarischen Rassen - an den Endsieg, als die Alliierten längst in der Normandie gelandet waren? Wer mit normalen Sinnen und normalem Verstand konnte die Verherrlichung und Vergottung des "Führers" ernst nehmen - den GRÖFAZ usw? Ich konnte es mir nicht vorstellen. Und noch eine Frage nagte an mir: wie hätte ich wohl gehandelt, wenn ich im Dritten Reich groß geworden wäre - oder der Generation der Eltern angehört hätte? Ich wünschte mir, daß ich anständig geblieben wäre, daß ich zu Widerstand fähig gewesen wäre, daß ich meinen Verstand nicht in blödem Jubelgeschrei ertränkt hätte. - Und im Hintergrund lauerte der Zweifel. Vielleicht wäre ich ein ganz normales BDM-Mädel geworden - vielleicht sogar eine Führerin.

Immer blieb die Frage: Was bringt klardenkende Menschen dazu, jede Besonnenheit, jedes logisch-vernünftige Denken, jede normale Mitmenschlichkeit und Verbundenheit mit anderen und Andersdenkenden über Bord zu werfen und blind wie ein Lemming sich in eine brüllende Masse einzureihen und sich dem Rausch einer Gewißheit zu ergeben, die nicht mehr kritisch überprüft oder gar angezweifelt werden darf. Wie war es möglich, daß sie den dumm-plumpen Parolen Glauben schenkten? Oder taten sie nur so - spielten sie das der breiten Masse nur vor, die daran glauben sollte, während es ihnen nur um die Macht ging?

Ich entschied mich für die zweite Lösung. Ähnlich dumme Sprüche, Parolen und Gemeinplätze verbreiteten die Kommunisten jenseits des Eisernen Vorhangs. Die Sündenböcke waren nun nicht mehr die Juden, sondern die Klassenfeinde, die Besitzenden, die Ausbeuter. Nur daß das Volk seine Befreier nicht als solche empfand. Für mich völlig verständlich wünschten sie die Sowjets auf den Mond und den verhaßten Ulbricht in den Orkus. Daß es unseren "Brüdern und Schwestern" in der Zone - und offenkundig bei den armen Verwandten mütterlicherseits wirtschaftlich so schlecht ging, offenbarte den Schwachsinn von der überlegenheit des Sozialismus, der in Wirklichkeit Gängelei, Diktatur und Wortschaumschlägerei war. Zu Weihnachten stellten wir Kerzen in die Fenster, um unsere Verbundenheit mit den Ostdeutschen zu bekunden. Wir bemitleideten die armen Teufel. Und wer klug und entschlossen genug von ihnen war, "machte rüber in den Westen" wie zwei meiner Cousins. Der Bau der Mauer löste in Ost und West ohnmächtige Wut und Empörung aus. Adenauer hatte einen großen Sieg.

Als ich im November 1966 anfing zu studieren, waren wir - meine Familie und die Öffentlichkeit - noch einig, daß sowohl die braune wie die rote Herrschaft und ihre Ideologien versagt hatten. Wir im Westen hatten Glück, von den Amerikanern besetzt worden zu sein und die Demokratie geschenkt bekommen zu haben. Ich weiß nicht, ob unsere Familie selbst von dem Marshalplan profitierte - aber es wurde dankbar registriert, daß die Amerikaner den geschlagenen Deutschen wirtschaftlich wieder aufhalfen, während die roten Befreier die wirtschaftliche Demontage Ostdeutschlands betrieben. Die Amerikaner hatten während der Berliner Blockade ihre Haut hingehalten und die Stadt versorgt. Sie hatten die Kommunisten in Korea bekämpft, als die in Korea einfielen.

Als der Vietcong von Nordvietnam aus anfing zu operieren, stand die deutsche Bevölkerung auf Seiten der Amerikaner. Ich hatte einen pazifistischen Klassenlehrer, der an den Ostermärschen teilnahm. Ich nahm ihn nicht sonderlich ernst. Ich hielt nicht viel von Pazifismus: ich wollte mich schon verteidigen dürfen, wenn ich angegriffen würde. Und wenn man das Verhalten der Kommunisten studierte, so nutzten sie jede Schwäche des Gegners aus, schritten vorwärts - sie waren aggressiv in ihren Handlungen mit Worten des Friedens auf den Lippen. Ihre Rede war ihr trojanisches Pferd, das den Klassenfeind einlullen sollte. Wer bedingungslos auf Pazifismus und Abrüstung setzte, zeigte einen bedenklichen Mangel an Psychologie und Wirklichkeitssinn. Als ob man damit Arglist und Böswilligkeit aus der Welt schaffen könnte!

Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, wie und in welchem Maß die Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg, gegen den Professorenmuff, gegen die Amerikaner und gegen den Schah von Persien den Alltag zu überschatten begannen. Die Hilfe der Amerikaner war Einmischung von außen und Stützung eines korrupten undemokratischen Regimes. Die Gründe waren nicht schlecht. Sie machten mich nachdenklich. Sollte nicht jedes Volk selbst für seine Regierungsform entscheiden dürfen? Das militärische Engagements der Amerikaner in Vietnam, die wirtschaftliche-politische Präsenz im Nahen Osten schienen nicht mehr so selbstverständlich wie vordem.

Die Sit-Ins, die Demos, die Sprengungen von Vorlesungen begannen. Die Mehrheit der anwesenden Studenten und Professoren, die die Vorlesung hören wollten, wurde allerdings nicht respektiert. Man fragte erst gar nicht, marschierte ein - die Mehrheit: das waren jene unpolitischen Köpfe, die nicht das richtige Bewußtsein besaßen und darum nicht gefragt werden mußten. Jeder, der zu widersprechen wagte, wurde mit arrogantem, höhnischen Gelächter niedergeschrien. Das war die sogenannte Demokratisierung!

Die Wut der arbeitenden Bevölkerung, die im Stau feststeckte, wenn die linken Studenten in ihrem Namen gegen die ausbeuterischen Arbeitgeber, die Blutsauger des Kapitals, demonstrierten, Steine warfen und Hauswände beschmierten, war die Wut der Dummen, der Nichtaufgeklärten, gefangen im Denken des Establishments. Ihr Wille galt nichts, ihre Wut war kleinbürgerlich-lächerlich, systemkonform - und undemokratisch! Als ich einen SDS-Studienkameraden fragte, ob er denn wisse, was die Arbeiter und Angestellten dachten - ob er jemals mit ihnen gearbeitet hätte, ob er jemals gejobbt hätte, sagte er mir hochtrabend und mit großbürgerlicher Herablassung: "Ich brauche mir doch nicht eine Ballonmütze aufzusetzen, um das Bewußtsein der arbeitenden Bevölkerung zu kennen!" Er kam gerade von einem Urlaub bei den sozialistischen Brüdern in Jugoslawien zurück, wo er von billigen Hummercocktails schwärmte, die er dort in Sonne und im Sand genossen hatte. Ich hatte in diesen Ferien gejobbt und saß abends mit den anderen im Stau in der heißen Straßenbahn, während draußen die Demonstrationszüge vorbeimarschierten. Ihre Argumente waren Ho-Tschi-Minh-Rufe und die Pflastersteine, die sie in die Fenster der Banken, der kapitalistisch-imperialistischen Schweine, warfen.

Es war merkwürdig. Plötzlich waren fast alle an der Uni links. Selbst völlig unpolitische Leute, die bisher (und auch weiterhin) nie eine Zeitung in die Hand nahmen, wußten, wo es langging - und waren links. Sie reihten sich ein, demonstrierten, diskutierten. Es war eine Woge der Begeisterung und der Identifikation wie damals bei den Beatles - nur diesmal im politischem Bereich. Ich hatte das Gefühl, einer Machtergreifung von links zuzusehen. Und zuzusehen, wie statt Denken und Argumentieren Wissen und Gewißheiten verbreitet wurden. Eine ungeheure Konformisierung fand statt. Entweder man war links - oder man war ein reaktionärer Rechter, ein dummes Opfer des Establishments, ein Agent des Kapitals - unfrei und gebunden in den dummmachenden veralteten und altmodischen Vorstellungen der Bourgeousie. Entweder man hatte das richtige "linke" Bewußtsein - oder man war ein Nichts, ein lächerlicher Popanz, der niedergelacht wurde, wo er oder sie nur den Mund aufzumachen wagten.

Ich erinnere mich an Diskussionen um den Mehrwert, den der Kapitalist listig der Arbeit seiner Arbeiter entzieht und seinem Vermögen einverleibt. Nur die Preisbildung, die gerecht den Mehrwert der investierten Arbeit verteilte, war nicht ausbeuterisch. Meine Frage, wie der Mehrwert zu bemessen sei, wenn einer Arbeit in eine völlig sinnlose Arbeit investiere, z.B. Luft in Tüten fängt und sie dann verkauft, wurde übergangen. Mir wurde geraten, erst mein Bewußtsein zu bilden und die Werke des Wirtschaftsgurus Ernest Mandel zu lesen. Meine Fragen wurden durch die Lektüre nicht beantwortet. Und wenn ich in den darauffolgenden Diskussionen Mandel zitierte, bekam ich immer noch keine Antworten. Man weigerte sich einfach, meine Fragen und Einwände ernstzunehmen.

Das war überhaupt das Besondere: Einwände wurden einfach ignoriert und als Äußerungen von Dummköpfen abgetan. Intoleranz, Unduldsamkeit, Hochmut und Verachtung jeder anderen Meinung waren kennzeichnende Merkmale der damaligen Diskussion - alles im Namen von Demokratisierung, Liberalisierung und Pazifismus! Man stand einer geballten, formierten Meinungsmacht gegenüber. Jedes Sachargument war nichts als ein kleinbürgerlicher Versuch, das bestehende Establishment aufrechtzuerhalten. Ich hatte das Gefühl, eine Ahnung von den geistig-politischen Zustände der dreißiger Jahre bekommen - nur daß Haß und Intoleranz diesmal von linker Seite kamen. Aber die geistige Gleichschaltung, die überhebliche Unduldsamkeit waren dieselbe. Und damals wie auch Ende der sechziger Jahre gab selbst die geistige Elite das Denken auf, gab sich einer Ideologie hin, erlag dem Rausch der Masse, der Mehrheit und der Gewißheit. Und: man hatte wieder einen Sündenbock! Die Sowjets konnten auf den Menschenrechten herumtrampeln, wie sie wollten - niemand fragte danach außer ein paar reaktionären kalten Kriegern (Löwenthal im Fernsehen etc). Man demonstrierte gegen den unmenschlichen Krieg in Vietnam - und erwähnte mit keinem Wort die Massaker in Biafra. Der Krieg in Nigeria, in dem Schwarze Schwarze abschlachteten, interessierte die Linken nicht. Weiß heute noch jemand von diesem Krieg? Man kämpfte nur gegen den Krieg des "Klassenfeindes". Man war nicht gegen den Krieg - auch wenn man vehement den Dienst in der Bundeswehr verweigerte. Man unterstützte Castro, Che Guevara und die SWAPO - die hatten das fortschrittlich richtige Bewußtsein. Was die Bevölkerung dachte und wollte, interessierte niemanden. Als Israel sich 1967 gegen den bevorstehenden Angriff der Araber wehrte und den Krieg auch noch gewann - war das ein imperialistischer Krieg, eine verdammenswerte Aggression. Niemand fragte mehr nach den abgezogenen UNO-Posten in Sharm-el-Sheikh und nach der Blockade von Elath.

Dann der Prager Frühling. Linke protestierten gegen Linke. Eine Rebellion gegen gegen die verkrustete Herrschaft der Sowjetkommunisten. Forderungen nach Presse-, Rede- und Versammlungsfreiheit, nach privater Wirtschaft und freien, geheimen Wahlen. Man hörte es nicht gerne - und überhörte es. Als die Russen einmarschierten - eine Einmischung von außen, deutlicher als je die Amerikaner in Vietnam - wurde der Einmarsch gerechtfertigt: der Klassenfeind müsse zurückgeschlagen werden. Die Tschechoslowakei sei doch von Klassenfeinden und von klassenfeindlichem Gedankengut unterwandert! Es sei reine Selbstverteidigung. Damit war mein guter Wille, mich immer noch auf Diskussionen einzulassen und auf ein Gespräch zu hoffen, erloschen.

Alles, was da im Namen von Frieden, Freiheit, Demokratie auftrat, war nichts als larvierte Kommunistentaktik der übelsten Sorte.

Der Golfkrieg zeigte es wieder. Als Kuweit überfallen wurde, regte sich kein Protest - keine Demonstration. Aber als die Amerikaner den Kuweitis zuhilfe kamen, waren plötzlich die Massen auf den Straßen. Es ging nicht gegen den Krieg für den Frieden: es ging immer nur gegen Amerika, den Klassenfeind und die Imperialisten.

Statt des Schahs haben die Perser nun Chomeini und seine Nachfolger. Haben sie das verdient? Als die Russen in Afghanistan einfielen, gab es widerwillig leisen verbalen Protest. Die Straßen aber blieben leer - so leer, wie sie jetzt beim Krieg der Serben gegen Slowenien, Kroatien, Bosnien und die Kosovoalbaner sind und waren. Nicht Tatsachen zählen, sondern allein die rechte linke Gesinnung.

 

PS: Statt Pflastersteine in die neuen Glaspaläste der Frankfurter Banken zu werfen, findet man heute witzigerweise nicht wenige Alt-68er in den Vorzimmern der Banken antichambrierend: auf der Suche nach Sponsorengeldern für ihre neuesten Projekte. Derweil entlassen die Banken wie viele andere Unternehmen massenweise ihre Mitarbeiter - still und leise, unbehelligt von Demos, Sit-Ins und Pflastersteinen wie anno 1968. Aber damals demonstrierte man ja auch in Zeiten der Vollbeschäftigung...

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