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Ein Kommentar zu:
"Total out - Erinnerungen einer
reaktionären 68-erin".
Betreff:
68-er, Poesie &
Datum:
Sat, 29 Sep 2001 09:24:31 EDT
Von:
Herzgalopp@aol.com (Raimund Samson)
An:
mail@regina-berlinghof.de
Hallo Frau Berlinghof!
Ich bin heute ein weiteres Mal auf
Ihre Website gesurft und habe einige Texte heruntergeladen und gelesen,
u.a. auch den Artikel
"Total out - Erinnerungen einer
reaktionären 68-erin".
Zwei Gründe haben mich dazu
gebracht, Ihnen diese mail zu schicken: Zum einen ist es Ihre Kritik an
der katholischen Kirche, die Sie in verschiedenen Beiträgen auf Ihrer
homepage äußern. Zum anderen ist es der erwähnte Beitrag
zur 68-er-Zeit, zu dem ich eine spezifische Haltung habe - als ehemals
Beteiligter.
"ich will versuchen, mich zur SACHE
zu äußern, dabei aber meine Biografie nicht auszuklammern. Sie
gehen sehr konkret von
eigenen biografischen Topoi aus
- und das finde ich sehr richtig. Je konkreter Menshen ihre eigene Geschichte
in eine Diskussion
einbringen, desto persönlicher/menschlicher
kann ein Diskurs werden.
Das Katholische hat in meinem Leben
eine sehr wichtige, bestimmende, mich prägende Rolle gespielt - leider
in einer zwanghaften Weise: ich konnte mich der spezifischen katholisch-religiösen
Erziehung nicht entziehen + hatte als Kind/Jugendlicher nicht den intellektuellen
Background bzw. das Bewußtsein und die (künstlerischen) Mittel,
um über meinen bescheidenen Horizont hinauszublicken. Konkret bedeutete
diese Erziehung, daß ich regelmäßig geschlagen und in
erpresserischer Weise (Anerziehung eines schlechten Gewissens etc.) dazu
gebracht wurde, einem bestimmten Bild zu entsprechen und an den gesellschaftlichen
Kontext angepaßt zu werden. Das führte bei mir zu einer "psychosozialen
Leistungsfunktionsstörung" (attestiert von einem Psychiater) mit u.a.
der Folge, daß ich mit 19 mein soeben begonnenes Studium wieder abbrechen
musste. Damals, 1971, waren Studentenproteste etwas Normales, gehörten
an der Uni Heidelberg, wo ich studierte, zum Alltag. Es gab aber nicht
nur diese Demonstrationen, Solidarisierungen mit den Arbeitern usw., sondern
auch vielfältige andere Versuche, "an sich selber" zu arbeiten, sprich:
Die repressiven Strukturen, die man/ich durch eine falsche Erziehung -die
nicht mehr war als ein Abrichten, eine Art
Dressur- wenn nicht aufzuheben,
so doch bewußt zu machen. Mit der Perspektive, aus erlittenem Leid
zu lernen und dem Leben
einen Sinn abzugewinnen.
Mir fällt an Ihrem Artikel
auf, daß Sie pauschal alle 68-er, alle Proteste, Demonstrationen
usw. als Ausdruck von Intoleranz,
Heuchelei, undemokratisches Verhalten
usw. abtun. Inwieweit Sie diese Jahre und die Bewegung bewußt miterlebt
haben, weiß ich
nicht. Ich erinnere mich sehr wohl
daran, daß sowohl der Einmarsch der Russen in Afghanistan, die Unterdrückung
des Prager
Frühlings von weiten Teilen
der Linken abgelehnt worden ist - und nicht nur als verlogener verbaler
Protest, sondern mit allen
Konsequenzen, was die ideologische
Ausrichtung und die tägliche Basis-Arbeit anbelangt. Es gibt außer
mir noch viele andere
Menschen, die nicht nur von der
Ungerechtigkeit, von den Terrorangriffen der Amerikaner auf Vietnam Flächenbombardements
auf Hanoi, Vergiftung von Tausenden Quadratkilometern Land mit weitestreichenden
Folgen bis heute) u.ä. betroffen waren, sondern die auch die Verstümmelungen,
die eine entfremdete Lebensweise bei den Menschen anrichtete: Abrichtung
zu Arbeitsrobotern (damals gab es ja noch Arbeit), dumpf dienenden Staatsbürgern
usw. bei sich selber bemerkten und etwas dagegen tun wollten. das war nicht
mit einem theoretischen Programm zu ereichen, sondern in sehr unterschiedlichen
Versuchen, die zumeist dezentral konzipiert waren. Es gab hier intolerante,
ungeduldige Leute, die alles über ihren ideologischen Kamm scherten,
aber ich habe auch menschen kennengelernt, denen es ernst war mit der Veränderung
sowohl der gesellschaftlichen Verhältnisse als auch ihrer selbst.
Und es waren durchaus viele leute dabei, die bereit waren, mit Andersdenkenden
zu diskutieren - auch bei den 68-ern, die im Blickpunkt standen. Rudi Dutschke
ist ein sehr gutes Beispiel dafür. Von den meisten Medien damals ist
das Bild eines Fanatikers
geprägt worden, der angeblich
nur Haß und Ausgrenzung zu bieten hatte. Dutschke ist ein Beispiel
dafür, wie einer seine eigene
Biografie immer einbezogen hat.
ich bin heute froh, daß ich
neben der politischen Arbeit die KUNST und LITERATUR für mich entdeckte,
die mich entscheidende
Schritte zur Bewußtwerdung
und zur Selbstgestaltung, Bewältigung meines Alltags lehrten. Als
Autodidakt. Ich bin damals sehr radikalisiert gewesen, betreute in Hamburg
politische und andere Gefangene in einer Organisation namens "Schwarze
Hilfe", die sich jedoch 1975 immer mehr als eine Rekrutierungsstelle für
RAF entpuppte. Da bin ich ausgestiegen. Ich war damals sehr desorientiert
und froh, überhaupt Menschen zu treffen, die etwas taten; die offenbar
auch unter einem LEIDENSDRUCK standen, die Kommunikation suchten und was
heute lächerlich klingt- für eine bessere Gesellschaft kämpften.
Ich wusste es damals nicht besser, aber ich stehe zu meiner Geschichte.
Jeder Mensch macht Fehler - vielleicht sind sie das Einzige, woraus man
überhaupt lernen kann (Lernen einmal anders begriffen als das blinde
Verinnerlichen von vorgegebenem "Lern"stoff).
Sie schreiben in Ihrem Rundumschlag
gegen alles radikale Linke und radikale Rechte, daß Sie "Mein Kampf"
'in großen Zügen'
gelesen haben. Ich habe das Buch
auch angefangen zu lesen, aber ich brauchte nur 40 Seiten, um zu sehen,
daß das Buch
literarisch entsetzlich schlecht
ist: langatmig, kitschig + von einem furchtbaren Pathos durchzogen. Man
merkt recht bald, daß der
durchgeknallte Mann, der mit Haßtiraden
sein Publikum fesselte, kein anderer ist als der, der seine Wut und seinen
Wahn zu
Papier brachte. Mich stört
bei Ihrer weiteren "Argumentation", daß Sie Nazis und 68-er plötzlich
über einen Kamm scheren, und
zwar nicht nur mit Sätzen wie
"Die Sündenböcke waren nun nicht mehr die Juden, sondern die
Klassenfeinde, die Besitzenden, die
Ausbeuter". Sie schreiben "Ich hielt
nicht viel von Pazifismus". Mir scheint: Auch heute nicht. Ihr Pamphlet
gleicht einer Abrechung mit allen, die einst den Aufstand versucht haben.
Auch wenn die meisten gescheitert sind -oder es sich, wie Fischer, als
Etablierte inzwischen mehr oder weniger gemütlich gemacht haben (der
Mann war schon immer sehr autoritär und machtbesessen)- viele Versuche
hatten nichts Ehrenrühriges, sondern waren notwendige Versuche, unerträgliche
Verhältnisse zu ändern. Ich habe einer ausgesprochene Hochachtung
vor Leuten, die immerhin etwas versucht haben. Ihre haltung kann ich eher
akzeptieren als das beserwisserische Geschrei oder staatsmännischtrockene
Parlieren jener, die immer schon alles vorher wussten und nie etwas probierten.
Lebensqualität bekommt man in dieser Gesellschaft (und wohl auch in
keiner anderen) geschenkt - es sei denn, man verwechselt ein größtmögliches
Waren-Angebot und den totalen Konsumismus (wie er heute normal ist) mit
dem, was man bestenfalls aus seinem Leben machen kann.
Sicher: Was sich heute als "68-er"
geriert, ist kaum mehr als der Versuch, dem langweiligen Angepaßtsein
ein bißchen Farbe zu
verleihen: leicht zu durchschauende
Kompensationsversuche. Ich kenne auch Spießer, die sich in leitenden
Behörden-Positionen
eingenistet haben und beim smalltalk,
bei irgendner Ausstellungs-Eröffnung u.ä. zum Besten geben, daß
sie mal "68"-er waren. Na und? Konformisten gibts überall. Daß
Sie jedoch Gleichmacherei einfach den Linken zuschreiben: "Eine ungeheure
Konformisierung fand statt. Entweder
man war links oder man war ein reaktionärer Rechter..." scheint mir
jedoch ein salto mortale
zu sein, der aus Ihrer Wut und Ihrem
Rachebedürfnis entstanden ist.
Ich kann mir Ihr totales Emotionalisieren,
Ihre haßerfüllte Polemik nur so erklären, daß Sie
persönlich sehr verletzt und beleidigt
worden sind. Ich kann aus meiner
politischen Arbeit und Erfahrung sagen, daß es gerade in den linken
Organisationen, die Sie
frontal und uneingeschränkt
attackieren, viele Versuche gegeben hat, ein menschliches, freundliches
Klima zu schaffen, indem
kontroverse Diskussionen möglich
waren, ohne daß Anderdenkende beleidigt und ausgegrenzt wurden.
daß ich hier ein "gutes Wort"
einlege für einige 68-er, bedeutet nicht, daß ich alles gut
fand.
Die Zeiten sind sehr hart geworden.
Viele haben resigniert. Viele machen es sich auch zu einfach, indem sie
alle Rechten in einen
Topf werfen und als "Nazis" anprangern.
"Die Rechten" als Sündenböcke. Was in einen Horst Mahler gefahren
ist, weiß ich nicht.
Ein ehemaliger Genosse von mir sitzt
seit 12 jahren in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt. Für
mich ist er einer der
frühesten Opfer des Nazi-Wahns.
Aber auch ein Opfer der unpersönlichen Atmosphäre in manchen
linken Gruppen, wo ideologische Phrasen das persönliche Gespräch
ersetzten. Und so kam es denn eines Tages, daß J. in seiner Nazi-Paranoia
eine
Kneipen-Wirtin für eine Nationalsozialistin
hielt und mit einer Flasche attackierte, und bald darauf eine ältere
Dame auf der Straße mit einem Hammer angriff.
Ich halte nichts davon, alle Skins
zu verteufeln.
Nur der Dialog, die Auseinandersetzung
mit Andersdenkenden kann die Polarisierung aufhalten, die von einigen Rechten
wie auch
Linken vehement betrieben wird.
ich denke, an dieser Stelle bin ich mit Ihnen einer Meinung.
Vorgestern hatte ich mit meiner
Tischtennismannschaft ein Auswärtsspiel, wo ich im Doppel gegen einen
jungen Farbigen antrat, dessen Partner auf seinem Glatzkopf und an Armen
und Beinen tätowiert war. Ein guter Ansatz, meine ich.
Ich verbleibe mit freundlichem Gruß
Raimund Samson
p.s. sie dürfen diesen Brief
gerne auf Ihrer Website publizieren. Aber ich weiß natrülich
nicht, ob Sie den Mut haben, eine Meinung
zu publizieren, die der Ihren widerspricht. |
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