Das Haupt des Menschen ragt in den Himmel, aber seine Füße stehen auf der Erde / Von Seijed Mohammad Chatami (FAZ vom 26.9.1998)
In einem Beitrag für diese Zeitung äußert sich der iranische Staatspräsident Mohammad Chatami grundsätzlich über das Wesen der Religion in der heutigen Zeit. In seinem ersten Beitrag für diese Zeitung (F.A.Z. vom 1. August), hatte Chatami bereits für ein differenziertes Verhältnis Irans zum Westen plädiert. Diesmal geht Chatami auf den immanenten Widerspruch zwischen göttlicher Absolutheit und menschlicher Begrenztheit ein, ein Widerspruch, der allen Religionen gemeinsam sei. Schaden entstehe dann, wenn man die eigene Wahrnehmung von Religion für die Religion selber halte. In solch einem Falle würde man aufhören, die andere Auffassung zu tolerien, und wie oft sind im Laufe der Geschichte Menschen zu Ketzern erklärt worden aufgrund dieses großen Fehlers" Der Beitrag des iranischen Staatspräsidenten mündet in einen Aufruf zum Dialog der Religionen. F. A. Z.
Über die Religion in der heutigen Welt möchte ich zu Ihnen sprechen. In welcher Situation befindet sie sich, und vor welchen Schwierigkeiten und Aufgaben steht der gläubige Mensch? Erlauben Sie mir, die Frage anders zu stellen: In welcher Situation befinden wir uns in dieser Welt? Mit "wir" meine ich "uns Gläubige". Das können Muslime, Christen und Juden gleichermaßen sein, doch in diesem besonderen Fall möchte ich das "wir" auf "uns Muslime" beschränken. Gleichwohl richten sich die folgenden Ausführungen nicht nur an Muslime; in mancher Hinsicht kann die ihnen zugrunde liegende Frage auch für Nichtmuslime von Interesse sein.
Als ein Muslim, der in seiner eigenen Zeit leben möchte, der aber zugleich in die Zukunft blickt und in Würde dazu beitragen möchte, sie zu gestalten, stelle ich also meine Frage über die Religion. Ich betrachte die Religion nicht von außen, als ein unparteiischer Beobachter, sondern aus der Perspektive eines suchenden Muslim. Aber wenn ich frage, in welcher Situation wir in der Welt von heute sind, dann müssen beide Teile der Frage klar sein. Was das "wir" anbelangt, so habe ich gesagt, daß ich uns Muslime meine; uns Muslime, die wir in der Vergangenheit eine Zivilisation gehabt und in der Geschichte der Menschheit eine Rolle gespielt haben und heute diese Stellung und Rolle nicht mehr haben; die wir uns wieder im Buch der Geschichte finden und, wenn es möglich ist, eine Zukunft bauen möchten, die sich von unserem Heute und sogar von unserem Gestern unterscheidet. Dabei sollten wir den Platz derer, die anders sind als wir, nicht einengen wollen und die neugewonnenen Erkenntnisse und Erzeugnisse des menschlichen Denkens nicht übersehen.
Fortschritt mit Austausch
Aber was meine ich mit "der heutigen Welt''? Um es mit einem Wort zu sagen: Mit der heutigen Welt meine ich die westliche Zivilisation, diejenige Zivilisation also, die gegenwärtig die Welt dominiert und unser wirtschaftliches, politisches, kulturelles sowie gesellschaftliches Gefüge außerordentlich stark beeinflußt, diejenige Zivilisation, ohne deren Werke und Errungenschaften das Leben auch von nichtwestlichen Menschen überhaupt nicht mehr möglich ist. An diesem Ort, an dem ich jetzt sitze und von dem aus ich zu Ihnen spreche, sind die Werke der westlichen Zivilisation überall präsent: dieses Gebäude - der Plan, die Organisation, die Instrumente und Elemente, die seinem Bau zugrunde lagen; die Stadt, in der sich diese Gebäude befindet; die Mittel der Kommunikation und vor allem der Massenkommunikation, mittels deren meine Äußerungen zu Ihnen getragen werden, und vieles andere mehr.
Eine unserer grundlegendsten Schwierigkeiten ist eben, daß unsere Kultur oder zumindest bedeutende Teile von ihr zu einer Zivilisation gehören, deren Zeit schon vor Jahrhunderten abgelaufen ist, daß unser Leben jedoch von der neuen Zivilisation beeinflußt wird, die eine zu ihr passende Kultur einfordert. Das ist "unsere Welt".
Erwarten Sie nicht, daß ich hier ein Manifest abgebe, denn erstens muß ich gestehen, daß mir dazu die wissenschaftlichen und intellektuellen Fähigkeiten fehlen, und zweitens läßt sich das Leben des Menschen nicht mit Manifesten in Ordnung bringen. Eines der stärksten Manifeste war das von Marx und Engels, aber wozu es führte, haben Sie gesehen, obwohl doch beide, insbesondere Marx, scharfsinnige und bedeutende Menschen gewesen sind.
Wir müssen uns ehrlicherweise eingestehen, daß das Leben ein gemeinschaftliches und bescheidenes Sterben ist. Ohne Zusammenarbeit, den Austausch von Meinungen und Gedanken, innere Verbundenheit und die fortwährende Mahnung, daß die Sichtweisen und Lösungen der Menschen endlich sind, wird es sich nicht fortentwickeln. Was ich im folgenden vorstellen möchte, sind sicher nur Fetzen von Möglichkeiten, keine abschließenden und endgültigen Lösungen. Alles, was man sich wünschen kann ist, daß sich die Tore der Diskussion und des Gespräches öffnen.
Ich bitte um die Erlaubnis, zunächst einige Sätze über die Religion sagen zu dürfen, um anschließend zu dem zu kommen, was man eine Schlußfolgerung nennt.
Die Religion ist mit dem Menschen entstanden und die älteste menschliche Einrichtung. Ohne Religion und ohne eine Art von Ergebenheit gegenüber etwas Höherem ist das Leben des Menschen ohne Sinn. Ob er will oder nicht, ist auf der Tafel seiner Existenz ein Zeichen des unendlichen Geheimnisses eingraviert, und in seinem Innersten erkennt er es und fühlt es. Voller Geheimnisse ist das Sein. Der Mensch weiß um sie und bemüht sich fortwährend, sie zu ergründen - und wieviel Geheimnisse sind ihm nicht offenbar geworden? Aber kaum hat er ein Geheimnis ergründet, gewahrt er hundert neue. Der Mensch ist sich bewußt, in einem Meer von Geheimnissen zu schwimmen, und also ist er verwirrt. Die Verwirrung ist so alt wie die Menschheit, und die beständigste und aufrichtigste Antwort auf sie ist die Religion. Solange es die Verwirrung gibt, wird die Religion mehr als jedes andere Phänomen die Menschen beschäftigen. Die Religion ist die Verbindung des einerseits endlichen und ohnmächtigen, aber andererseits auch unendlichen und immer suchenden und bewußten Menschen mit dem Mittelpunkt des Seins, mit dem Schöpfer der Welt, der alle Geheimnisse kennt. Gewiß gibt es niemanden, der nicht im Innersten an das Unendliche und Höchste glaubt, aber die Menschen vergessen und vernachlässigen die höchste Wahrheit. Doch den höchsten Aspekt des Seins zu vernachlässigen ist genauso fatal, wie das Endliche und das Veränderliche für beständig und unendlich zu halten.
Ein Leben ohne Gott - vor allem ohne den Gott der Offenbarungsreligionen und den Gott der Mystik, der sich vom Gott derer unterscheidet, die dem Aberglauben oder dem Philistertum anhängen, und sogar vom Gott der Philosophen - ist eng und dunkel. Trotz der Größe und Erhabenheit Gottes und trotz seiner eigenen Unzulänglichkeit und Begrenztheit kann der Mensch, ohne eines Mittlers zu bedürfen, eine Beziehung zu ihm aufnehmen; eine Beziehung des Herzens und sogar der Sprache. In einer Welt voller Zweifel und Verzweiflung kann er mit dem Mittelpunkt des Seins stille Zwiesprache halten. Er kann zu Gott reden und von Gott Antworten erhalten; von einem Gott, der schön ist und an den er deshalb wie ein Verliebter sein Herz verliert; von einem Gott, der erhaben ist und den er deshalb fürchtet. Doch ist diese Furcht nicht die Angst des Schwachen und Unfähigen im Angesicht des irrationalen Starken, sondern die Pein des Unvollkommenen, der nach Vollkommenheit strebt, im Angesicht des geliebten Vollkommenen.
Kurz gesagt: Die Religiosität hat ihre Wurzeln in der Seele des Menschen. Oder in den Worten des heiligen Koran: Die Religion und der Glaube an den einen Gott sind dem Menschen als eine Anlage mitgegeben. Er weiß instinktiv von etwas Höherem und Heiligem, das ihn anzieht, und ebendiese Kenntnis und diese Anziehung, die er verspürt, weisen auf die Wesensgleichheit des menschlichen Geistes mit der höchsten und heiligen Wahrheit; auf das, was der Koran als den "Geist Gottes", dem sich die Vollkommenheit der Schöpfung erkennen gibt, bezeichnet. Doch die Existenz des Menschen hat zwei Aspekte, den himmlischen und den natürlichen. Das Haupt des Menschen ragt in den Himmel, er ist mit dem Heiligen vertraut, aber seine Füße stehen auf der Erde, er ist zum Leben in dieser Welt verurteilt, zu Raum und Zeit. Wie sein Körper sich verändert, verändert sich sein Bewußtsein.
Die Geschichte des Menschen ist eine Geschichte des Wandels seiner Glaubensüberzeugungen und Ideen. Alle Meinungsverschiedenheiten zwischen den Denkern, zwischen den Anhängern der Doktrinen, wie auch die grundsätzlichen Konflikte zwischen den Konfessionen einer Religion und sogar die gedanklichen Widersprüche innerhalb der einzelnen Konfessionen bezeugen, daß niemand beanspruchen kann, über die absolute Wahrheit zu verfügen. Welchen Islam meinen wir denn, wenn wir von dem Islam sprechen? Den Islam Abu Zarrs, den Islam Avicennas, den Islam
Ghazalis oder Ibn Arabis, den Islam der Aschariten, der Mystiker, der Orthodoxie oder der Buchstabenfrommen? Sie alle bezeugen die Relativität der menschlichen Erkenntnis und also auch jener Erkenntnis, welche die Menschen von der Religion haben. Keiner von uns, gleich welcher Doktrin er sich verbunden fühlt, stimmt heute in Denken und Handeln mit seinen Vorfahren überein.
Die essentielle Schwierigkeit einer Gemeinschaft von Gläubigen ist also, daß sie zwar an Wahrheiten und Wirklichkeiten glaubt, die absolut, erhaben und heilig sind, ihr eigenes Leben und ihr Geist jedoch relativ sind. Damit ist auch ihr Verhältnis zu jenen absoluten Wahrheiten und Wirklichkeiten relativ. Solange sich diese Gemeinschaft ihrer Grenzen und Begrenztheiten bewußt ist, wird dieser Widerspruch nicht zum Verhängnis. Zur Katastrophe kommt es in einer Gemeinschaft von Gläubigen erst, wenn sie die Absolutheit und Heiligkeit der Religion auf die relativen, fehlerhaften, zeitlich und räumlich gebundenen Wahrnehmungen des Menschen von der Religion überträgt; wenn die Auffassungen, zu denen der Mensch in seiner Begrenztheit gelangt ist, für die Religion selbst gehalten werden und die Idee aufkommt, daß nur ein Gläubiger ist, wer sich genau diese Auffassung zu eigen macht. Der Grund, daß Menschen zu Sündern und Ketzern erklärt oder Kriege geführt werden, ist in vielen Fällen hier zu suchen.
Ist aus dem Gesagten zu folgern, daß dem menschlichen Geist alle Türen zur absoluten Wahrheit verschlossen sind? Wir wissen, einige westliche Philosophen der Neuzeit diese Frage bejaht haben; sie haben entweder geleugnet, daß eine absolute Wahrheit existiert, oder wenigstens verkündet, daß wir sie nicht erfassen können. Aber den Gläubigen, der im Innersten an den allmächtigen und Gott glaubt, können diese Antworten niemals befriedigen. Wir sind davon überzeugt, daß Gott seine Geschöpfe nicht zur Religion einlädt, wenn es keinen Weg gibt, ihre Wahrheit zu erkennen.
Meiner Ansicht nach führt der sichere Weg, Gott zu erkennen, nicht über das Verstehen, sondern über die mystische Vereinigung, nicht über die Vernunft, sondern über das Herz; das ist der Weg, den auch die Religionen hervorgehoben haben. Die Großen des Islams haben uns gelehrt, daß der barmherzige Gott mittels der Vernunft angebetet wird. Die Vernunft ist hier Quelle der Anbetung, nicht Quelle des Verstehens. Im heiligen Koran heißt es: "Diene deinem Herrn, bis dir die Gewißheit zukommt." (Sure 15,99) Der Weg zur Gewißheit und zur Erkenntnis Gottes ist die Anbetung, die Tat und die Reinigung des Innern, nicht das Begreifen mit dem Verstand. Diese Aussage ist keinesfalls als Leugnung der Vernunft und der philosophischen und wissenschaftlichen Erkenntnis zu verstehen, deren Stärke und gerade im Islam betont worden sind. Aber man muß die Grenzen kennen, die jeder einzelne Bereich des menschlichen Geistes hat. Die Wahrheit des Glaubens ist eine Erfahrung, keine Idee, eine Erfahrung, die aus der Arbeit an sich selbst entsteht, aus der Beherrschung aller Leidenschaften und Triebe, der Ergebenheit in den majestätischen Mittelpunkt des Seins und der Liebe zum Geliebten.
Was ich gesagt habe, ist nicht neu. Abgesehen von den religiösen Lehrbüchem, haben auch die großen Mystiker, die Begrenztheit der Vernunft bezeugt. Auch die Großen wie Avicenna und viele andere Philosophen, die den Nutzen der Vernunft betonten und von der Wahrheit der diskursiven Erkenntnis übeizeugt waren, haben niemals behauptet, daß uns die Vernunft den Kern der Wahrheit erfahren läßt und uns ins Zentrum des Erhabenen leitet, sondern daß sie uns allenfalls an seine Grenze zu führen vermag.
Die Wahrheit der Religion
Die Wahrheit der Religion ist eine Erfahrung, die der gläubige Mensch in seinem Herzen macht. Wohl haben viele mystische Philosophen und Theoretiker der Mystik sich bemüht, den rationalen Aspekt dieses Weges aufzuzeigen, aber der Weg selbst ist die Vereinigung, nicht das Verstehen. Der kritische Punkt dabei ist nun, daß der Weg des Herzens ein individueller Weg ist, kein kollektiver. Jeder muß ihn selbst gehen, und wenn er angekommen ist, kann er die Einsicht, die er durch die Gegenwart Gottes erfahren hat, nicht in Begriffen und mit Hilfe des erworbenen Wissens mitteilen: "Wem Nachricht zuteil wurde, von dem ward keine Nachricht." (Saadi) Zugleich aber ist der Mensch ein Gemeinschaftswesen, das nicht nur zum Leben auf dieser Erde verurteilt ist, sondern auch zum Leben mit anderen Menschen: Er bedarf der Mittel, die er nüt anderen teilt, um mit ihnen in Verbindung zu treten. Und tatsächlich verfügt er über ein Organon, das Vernunft genannt wird und dessen Aufgabe es ist, zu verstehen, was in der Welt ist. Gewiß ist ein solches Verstehen der Welt - wie die Welt selbst - unbeständig, fehlerhaft und veränderlich, - aber solange es den Menschen gibt und er in Gemeinschaften lebt, hat er keine andere Wahl, als mit diesem Organon, das die Schöpfung ihm zur Verfügung gestellt hat, der Welt zu begegnen und die zwei Bücher zu studieren: das Buch des Seins und das Buch der Offenbarung.
Die Religion eines jeden ist seine innere Erfahrung, die ihm in der Vereinigung mit dem Ursprung der Schöpfung zuteil wird. Aber als vernunftbegabte Geschöpfe, die in Gemeinschaften leben und deren gemeinsames Organon die Vernunft ist, verstehen wir die Religion nicht anders, als wir die Natur verstehen; und auf der Grundlage unseres Verstehens treten wir in Verbindung zu anderen. Mag unser Verstand beständige Grundlagen haben, er verfügt jedenfalls auch über relative und veränderliche; genau hierin liegt eine der größten Schwierigkeiten für eine Gemeinschaft von Gläubigen.
Viele Gläubige identifizieren die Heiligkeit, die Absolutheit und die Erhabenheit, die das Wesen der Religion und die Wahrheit der Doktrinen ausmachen, mit ihren. relativen und begrenzten Wahrnehmungen sowie ihrem zeitlich und örtlich gebundenen Verständnis der Religion. Wenn mit der Zeit und infolge der Veränderungen, die sich im Denken und im Leben der Menschen ereignen, aus den früheren Wahrnehmungen keine Antworten mehr folgen, passen sie die Wirklichkeit der eigenen, engen Wahrnehmung an, statt sich den Quellen der Religion aus einer neuen Perspektive zuzuwenden und sich um eine vollkommenere Sicht zu bemühen. Aber langfristig ist dies nicht möglich, und kurzfristig bringt es nur Unglück.
Die heutige Sicht des Menschen auf die physische Welt unterscheidet sich fundamental von seiner gestrigen. Bekanntlich hat man in der Vergangenheit versucht, den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen einen heiligen Anstrich zu geben; eine bestimmte Auffassung von der Natur wurde seitens der Kirche oder mancher religiöser Institutionen offiziell sanktioniert, so daß man über Jahrhunderte hinweg unfähig war, eine neue Sicht oder eine neue Idee zu ertragen. Doch so groß der Druck war, der auf die Denker ausgeübt wurde, so entschieden man sie verfolgte, so sehr hat sich die Sicht dennoch verändert. In der heutigen Zeit gibt es im Islam, im Christentum und in anderen Religionen kaum noch jemanden, der glaubt, die himmlischen Schriften wie der Koran oder die Bibel hätten dem Menschen auch die Natur erklärt. Vielmehr ist weithin akzeptiert worden, daß man zum Erkennen der Welt und der Natur die Vernunft und das Denken anwenden und zu einer Theorie gelangen muß, die so lange aufrechtzuerhalten ist, wie sie die Fragen beantworten und die Bedürfnisse befriedigen kann.
Die Macht der Realität
In solchen Beispielen offenbaren sich die Relativität, die Begrenztheit und die Fehler der menschlichen Erkenntnis, sei es in bezug auf die Natur oder in bezug auf die Religion. Sie ist menschlich und daher veränderlich. Der Mensch studiert das Buch des Seins und das Buch der Offenbarung mit Hilfe seines Verstandes und seiner Vernunft. Sowenig die Wirklichkeit sich durch eine neue Sicht auf die Natur verändert, sowenig schadet es der Wahrheit, Heiligkeit und Erhabenheit der religiösen Essenz, wenn sich die Sicht des Menschen auf die Religion verändert. Der Schaden entsteht erst dort, wo der Mensch seine Wahrnehmungen der Religion für die Religion an sich hält. In diesem Fall toleriert er keine andere Sicht, keine andere Auffassung und keine andere Wahrnehmung; und wie oft sind im Laufe der Geschichte Menschen zu Ketzern erklärt, wie viele Konflikte und Kriege sind geführt worden auf Grund dieses großen Fehlers. Den Schaden hatte der Mensch, dessen dynamischer Geist für eine Zeitlang von der Wahrheit ferngehalten wurde, und den Schaden hatte die Religion, die wie das Denken erst nach einer Zeit der Unterdrückung befreit wurde; denn in seinem engen Gewand und einer bedrückenden Atmosphäre wird die Religion zum Gegenstand ganz spezieller Sichtweisen, pessimistischer und skeptischer.
Will man der Religion in unseren Tagen einen Dienst erweisen, so muß man mutig zwischen ihrem Wesen, das etwas Erhabenes und Heiliges ist, und den menschlichen und daher relativen, begrenze und veränderlichen Wahrnehmungen der Religion unterscheiden. Die Religion wird dann ihren Platz im Herzen der Gläubigen bewahren, und gleichzeitig öffnet sich das Tor für Veränderungen im religiösen Denken. Die unterschiedlichen und zuweilen widersprüchlichen Auffassungen, die es im Laufe der Geschichte von der Religion gab, die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Mystikern, den Philosophen, den Sammlern der Überlieferungen, den Buchstabenfrommen und den anderen Richtungen sollten uns lehren, niemals unsere Erkenntnisse mit der Wahrheit der Religion zu verwechseln. Wichtig ist, daß wir immer zu den religiösen Quellen zurückkehren, und zwar mit den richtigen wissenschaftlichen und rationalen Methoden, die allerdings wie jede andere menschliche Angelegenheit veränderbar und zu vervollkommnen sind. Akzeptierten wir, daß unsere Wahrnehmung der Religion menschlich ist, würden wir bescheidener werden und uns den geistigen und zivilisatorischen Erfahrungen der Menschheit öffnen. Gleichzeitig wären uns lebendigere und produktivere Erkenntnisse von der Religion möglich; denn das Religiöse ist ebendeswegen ewig, weil es durch keine menschliche, an Raum und Zeit gebundene Auffassung begrenzt wird. Der Weg für grundlegende Veränderungen im Leben der Gläubigen wäre geebnet, ohne daß ein schiefes Gedankengebäude, das den Namen Religion beansprucht, den Raum für das Denken beengt und ohne daß die Heiligkeit und Erhabenheit der Religion beeinträchtige werden.
Eine lebendige und produktive Auffassung von der Religion setzt allerdings auch voraus, mit beiden Füßen im Leben zu stehen. Man kann nicht in der heutigen Welt leben, ohne die wichtigste Realität unserer Tage genau zu kennen und ohne einen Weg und eine Methode des Umgangs mit ihr zu finden (was nicht bedeutet, die eigene geschichtliche und kulturelle Identität deswegen aufzugeben). Ich meine, daß die westliche Zivilisation eine kraftvolle Realität unserer Tage ist. Auch wenn der Westen für uns unangenehme politische Aspekte hat und es kaum nichtwestliche Völker und Länder gibt, die die Peitschenhiebe seiner. politischen und wirtschaftlichen Ausbeutung nicht auf dem eigenen Rücken gespürt haben, so besteht doch der Westen nicht nur aus Politik und Wirtschaft. Der Westen ist eine Zivilisation und eine Kultur, die auf spezifischen Werten und Auffassungen beruht; ohne sie zu kennen, wird unsere Kenntnis des Westens oberflächlich, äußerlich und irreführend sein. Auf der einen Seite müssen wir vor den Unzulänglichkeiten des Westens auf der Hut sein, und auf der anderen Seite müssen wir seine Errungenschaften übernehmen. Beides ist möglich, wenn wir ein Stadium der geistigen und historischen Reife erreichen und die Kraft erlangen, zu erkennen und eine eigene Wahl zu treffen.
Aus dem Persischen übersetzt von Katajun Amirpur und Navid Kermani.
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