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NICHT ABGEDRUCKTER LESERBRIEF AN DIE FAZ
 

28. August 1995 
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Redaktion Leserbriefe

Betrifft:  Fremde Federn. Christoph Böhr: „Vom Schutz der staatlichen Freiheit durch das Kreuz“ vom 28. August 1995

Sehr geehrte Damen und Herren,

dem Artikel von Herrn Böhr muß entschieden widersprochen werden. Wenn das Kreuz allein deshalb nicht aus den Klassenzimmern verbannt werden darf, weil es für die abendländischen Werte des Individuums, der Freiheit und der Demokratie steht, dann unterliegt der Verfasser einem frommen Selbstbetrug. Das Christentum hat die individuelle Person und die Würde jedes einzelnen Menschen weder entdeckt noch besonders gefördert. Allenfalls hat sie die personale Verantwortung ausgebaut und die Opferbereitschaft des einzelnen zugunsten der Gemeinschaft oder einer Idee gestärkt. Für mich als Ex-Christin und dennoch religiöser Mensch ist das Kreuz das Symbol des Karfreitags und nicht das von Ostern, der eigentlichen frohen Botschaft. Es ist das Sinnbild des sinnlosen Opfers, des Opferns des einzelnen zugunsten des Wahns der Verhetzung und der Massenpsychose. Man braucht gar nicht bis zu den Kreuzzügen und den Kolonialisationskriegen der christlichen Eroberer zurückzugehen. Es ist gerade ein Phänomen auch unseres Jahrhunderts, wie Herr Böhr selbst feststellt.

Wenn das Kreuz die Werte des einzelnen und des Abendlandes versinnbildlichen soll, dann müßte ganz Lateinamerika zum Hort individueller Rechte und des demokratischen Gedankens geworden sein. Die Geschichte spricht für sich selbst. Und wo hat  sich die Freiheit des Individuums und die Würde des Menschen in den christlich-orthodoxen Ländern herausgebildet?

Das Bewußtsein der Würde des einzelnen Menschen, des einzelnen Menschen als Träger von Rechten und Pflichten, verdanken wir nicht allein dem Neuen Testament, sondern vor allem der Wiederaneignung der griechischen Philosophie und Kultur in der Renaissance und der Aufklärung. Und nicht zuletzt und ganz besonders verdanken wir die abendländischen Werte dem Alten Testament und seiner Fortentwicklung im Judentum.

Das Alte Testament beschreibt zwar die Geschichte Gottes mit seinem auserwählten Volk, aber genauso betont es die persönliche Würde und Verantworung des einzelnen Menschen. Gleich im ersten Kapitel (Vers 27) wird die herausragende Stellung des Menschen begründet: Schuf Gott den Menschen doch nach seinem Bilde, und zwar als Mann und Frau. Selbst der Gedanke der Gleichberechtigung ist in diesem ersten biblischen Schöpfungsbericht schon gegeben. Und Gott stellt fest: „Und siehe da, es war sehr gut.“ Der jüdische Gott bleibt auch nach der Schöpfung noch im Dialog mit seinen Geschöpfen. Und: er spricht nicht nur mit Königen oder Priestern, sondern auch mit dem einzelnen Menschen. Nach dem „Sündenfall“ im zweiten Schöpfungsbericht zieht Gott Adam und Eva unmittelbar zur Verantwortung. Gott spricht mit Kain, er redet mit Noah, der gegen den Spott seiner Mitmenschen die Arche baute. Gott redete mit Abraham und versprach ihm Land. Er redete und rang mit Jakob. Der Gott des Alten Testamentes berief einzelne Menschen zu Richtern des Volkes, zu Königen und zu seinen Propheten. 

Man muß es wohl deutlicher umgekehrt, vom Menschen her, definieren: Das Alte Testament und die jüdische Kultur erkannten an, daß Gott zum einzelnen sprach und ihn damit befähigte, sich im Vertrauen auf Gott gegen seine soziale Umwelt, gegen Gesetze und Könige, ja gegen Gott selbst zu stellen. Sie erkannten an, daß ein König, den Gott selbst auserwählt hatte, von einem einfachen Mann zur Rechenschaft gestellt werden konnte. So ging Natan zum König David und hielt ihm in einem Gleichnis den Mord an seinem Feldherrn Uria vor, den er in den sicheren Tod geschickt hatte, weil er dessen Frau für sich wollte. Am Erstaunlichsten und Großartigsten im Alten Testament ist jedoch die Geschichte Hiobs, der sich selbst gegen Gott zu stellen wagte und deswegen weder mit der Fatwa belegt noch sonst mit ewiger Verdammung oder dem Scheiterhaufen bestraft wurde. Im Gegenteil: Gott ist der „Bösewicht“, indem er seinen frommen Diener versucht und den Schreckens Satans ausliefert. Und während Hiobs Freunde ihm eine vermeintliche Schuld an seinem Schicksal einzureden versuchen, nimmt Gott es Hiob nicht übel, daß der ihm widerspricht und laut sein Leid beklagt. Im Gegenteil: am Schluß offenbart sich Gott dem aufsässigen Hiob selbst, damit er mit eigenen Augen sehen und mit eigenen Ohren das göttliche Wirken verstehen kann. So wird der renitente Hiob von Gott gesegnet stirbt alt und lebenssatt!

Wo gibt es ähnliches im Neuen Testament, im Christentum? Der einzelne darf sich zwar auch gegen Umwelt und Staat behaupten: aber es ist immer gegen die Andersgläubigen gerichtet, niemals betrifft es die Auseiandersetzung innerhalb der Christen selbst. Die neue Komponente des Christentums ist die Brüderlichkeit, gerade die Einbindung des einzelnen in die menschliche Gemeinschaft. „Wo zwei oder drei in meinem Namen zusammen sind, da bin ich mitten unter ihnen“. Der einzelne darf sich gegen die Heiden als einzelner behaupten und für den Glauben als Märtyrer sterben (so wie Jesus am Kreuz gestorben ist), aber wo gibt es den einzelnen, der sich gegen die Mitchristen behaupten darf?

Umgekehrt gibt es den Spruch: Wo zwei Juden zusammen sind, da gibt es fünf Meinungen. Es ist gerade dieses individuelle jüdische „Selbstbewußtsein“, dieses unbequeme und freie, nur Gott verantwortliche Denken, das die christlichen Hirten mit ihren verteufelnden Bannflüche belegten, das nationale Politiker als „zersetzend“ für die Gemeinschaft anprangerten und das die Schäflein, Jünger, und Parteigänger so unbequem aus dem Schlaf ihres Glaubens und ihrer Ideologie reißt. Man muß es gerade heute an Goethes Geburtstag ganz faustisch/-mephistophelisch sagen: Die Aufklärung, die Freiheits- und Individualrechte wurden nicht aus, sondern gegen das Christentum und gegen das Kreuz entwickelt. Aus den Wurzeln der griechischen Philosophie und dem jüdischen Menschenbild des Alten Testaments. Denn die Renaissance, die Wiederbesinnung auf die griechische und römische Philosophie und Wissenschaft, verdanken wir zuallererst den jüdischen und damals freisinnigen muslimischen Gelehrten des Mittelalters. Als die Spanier 1492 die letzen Juden als „Schweine“ aus dem Land verjagten und alles jüdische, muslimische und heidnische Denken verbannten, damit die Flamme des Christentums um so reiner brenne, leuchteten die Städte bald im Widerschein der Scheiterhaufen. Das Neue Testament hat nicht die Würde des einzelnen entwickelt, es hat vielmehr geschieden zwischen Hirten und Schafen. Und wer seinen Kopf nicht so schnell den Hirten auslieferte, sondern aufbegehrte und eigene Gedanken äußerte und sein Handeln nach eigenem Gutdünken ausrichtete, wurde zum Meckerbock, zur Meckerziege, zum bocksbeinigen Satan und Ketzer, die auf den Scheiterhaufen gehörten. Luther und Calvin wären ohne die Renaissance, ohne die Zulässigkeit wissenschaftlichen Arbeitens und Auslegens der Bibeltexte, ohne die wissenschaftliche „Rückendeckung“ niemals erfolgreich gewesen. Sie wären verfolgt und ermordet worden wie die Katharer, wie Jan Hus und viele andere „Häretiker und Ketzer“. So wie Abu Znaim heute verfolgt und Salman Rushdie mit der Fatwa belegt wird, weil die wissenschaftliche Auslegung und das freie Lesen des Korans inzwischen zum Tabu im Islam geworden sind.

Das Befreiende am jüdischen (wie auch griechischen) Denken ist, daß es sich schonungslos auch gegen sich selbst richtet und sich vor der Wahrheit nicht in die Verdrängung oder in den Schlaf der Frommen, Gerechten und Rechtgläubigen flüchtet. Das sogenannte „zersetzende“, immer widersprechende jüdische Element ist so kostbar für die Freiheit des Einzelnen wie das Salz, ohne das jede Speise geschmacklos bleibt. Erst wenn wir diesen jüdischen Anteil an unserer Kultur verdrängen, dann hat Hitler wahrhaft gesiegt: Denn dann sind nicht nur die Juden, dann ist auch der jüdische Geist ausgerottet worden. Nur da, wo Gelehrte ohne Scheuklappen sich mit religiösen Texten beschäftigen dürfen, nur da, wo der einzelne Mensch Gott selbst hören darf (anstatt es wie ein Schaf vom Hirten vorgekaut zu bekommen), nur da gedeihen die Freiheits- und Individualrechte, nur dort gibt es die Gemeinschaft der gleichberechtigten, selbstverantwortlichen und religiös mündigen Bürger: die Demokratie.

Mit freundlichen Grüßen
Regina Berlinghof

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