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LESERBRIEF AN DIE FAZ, nicht abgedruckt
 

6. Oktober 2000 
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Redaktion Leserbriefe
3. Oktober oder 9. November? Wider die Verdrängung und die Verdränger ("Nutzen und Nachteil" - zum Artikel von Wilhelm Hennis vom 6.10.2000)

Sehr geehrte Damen und Herren,

Wilhelm Hennis schreibt: "Sollen wir Deutschen uns nie mehr solche Geschichten erzählen dürfen? Der 9. November 1989 ist ein fröhlich machender, ein Glück spendender Tag - daß das Kalenderdatum auch anderes in Erinnerung ruft, ist doch kein Unglück!"
Ich habe diese Sätze mehrfach gelesen und meinen Augen nicht getraut: "Daß das Kalenderdatum auch anderes in Erinnerung ruft" - das ist wohl die grandioseste Verdrängungsleistung, die hier in der FAZ verlautbart wird. Und der perfideste Aufruf zur bewußten aktiven Verdrängung. Sprachlich, politisch und historisch. Das "andere", das hier schon gar nicht mehr genannt wird, sind folgende deutsche 9. Novemberdaten des vergangenen Jahrhunderts:
9. November 1918: Unterzeichnung des Waffenstillstandes von Compiègne,  Beendigung des 1. Weltkrieges, Kapitulation Deutschlands
9. November 1923: Hitlers Marsch auf die Feldherrnhalle in München, erster Versuch einer Diktatur von rechts
9. November 1938 die sogenannte "Reichskristallnacht" - die staatlich veranlaßte Schändung von Synagogen, die Zerstörung jüdischer Geschäfte (wo viel Glas und Kristall zu Bruch ging, daher der verhöhnende Name), massenhafte Verhaftungen von Juden, Abtransporte in die KZs - alles unter dem Beifall eines großen Teils der "arischen" deutschen Bevölkerung.
Natürlich sind es nun mehr als fünfzig Jahre seit der Kristallnacht, und es gibt immer weniger Überlebende und Zeugen, die die Geschichten von Willkür, Gewalt und Verrat an Jüngere weitererzählen können. Offensichtlich will sie ja auch keiner mehr hören. Erst Walser, jetzt Hennis. Während Skins und Schläger im Jahr 2000 Anschläge auf Synagogen verüben, unterminieren wahrheitsverdrängende Intellektuelle das kollektive Gedächtnis. Das sind auch Anschläge, meine Herren! Vor allem wenn Wilhelm Hennis ganz ungeniert von Nutzen und Nachteil spricht und so die Novembergeschichtstage in einer Kosten/Nutzenrechnung gegeneinander aufrechnet.
Kann man sich einen Gedenktag des Glücks vorstellen, der gleichzeitig ein Tag des Unglücks und des Leidens ist für einen Teil der Bevölkerung? Oder sind deutsche Juden immer noch keine Deutschen? Vielleicht hätte Herr Hennis einmal mit ein paar älteren jüdischen Mitbürgen sprechen und sich ihre Geschichte erzählen lassen sollen. Ob sie, die Opfer, sich den 9. November als nationalen Gedenktag des Glücks vorstellen könnten? Man sollte nicht die Täter über die Erinnerungen an Unrecht und Gewalt entscheiden lassen.
Einen Gedenktag der Freude schafft man nicht dadurch, daß man einen Gedenktag des Leides auslöscht. Bei aller Freude, die am 9. November 1989 durchs Land ging - als Gedenktag der nationalen Freude eignet sich dieser Tag wahrlich nicht. Der 3. Oktober 1990, der den Fall der Mauer rechtlich besiegelte, ist dafür bestens geeignet. Und am 9. November bleibt es neben der Erinnerung an den Fall der Mauer beim Gedenken an unrühmliche deutsche Geschichtstage - und an das Leid vieler unschuldiger Menschen. Licht und Schatten auseinanderzuhalten und sich beidem zu stellen, das macht wahres Gedenken aus. 

Mit freundlichen Grüßen.
Regina Berlinghof
 

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