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LESERBRIEF AN DIE FAZ,
nicht abgedruckt
6. September 2002
Sehr geehrte Damen und Herren, auch ein Rezensent kann sein Thema verfehlen. Joao Cezar de Castro Rochas Kritik würde besser unter die Überschrift passen: „Bücher, nicht als Wirklichkeit, sondern als Vorstellung des Kritikers rezensiert“. Denn Rocha schert sich wenig um die besprochenen Bücher. Ihn interessieren weder die konkreten Inhalte noch die Gestaltung durch die Autoren, weder ihre Schwerpunkte und noch weniger ihr inneres Anliegen. Weil die Verfasser Literaturwissenschaftler sind, stopft er sie in die Kategorie der „Gelehrtenautobiographie“, deren höchste Maßstäbe in seinen Augen Hume, Vergil und Vico gesetzt haben. Ein höchst akademisch gebautes Prokrustesbett. Was nicht hineinpaßt, wird nicht wahrgenommen. Was anders erzählt, anders gewichtet und beleuchtet wird, wird nicht in seiner individuellen Eigenart begriffen, sondern als Mangel gerügt. Zwei Drittel des Textes werden zur Darstellung der vom Rezensenten gewählten historischen Vorbilder verwendet. Der ganze Mittelteil schildert den Aufbau der Vico’schen Autobiographie – nur um dann lapidar festzustellen, daß keines der beiden besprochenen Bücher diesem Aufbau gleichkommt. Über das äußerliche Merkmal des Berufsstandes wird eine Gleichheit und Vergleichbarkeit der Autobiographien unterstellt, die in nichts zu vergleichen sind. Auch das zweite äußere Merkmal der „Exiliertheit“ der Verfasser soll Vergleichbarkeit herstellen. Auch hier hat das klassische Vorbild die Nase vorn. Denn Vergil war tatsächlich ein Verstoßener, den es in eine unwirtliche und kulturell öde Fremde verschlug, während die heutigen Verfasser – so Rocha –, ganz zu Unrecht über ihre Exiliertheit lamentierten – habe ihnen doch dieses Exil erst den Boden für ihre akademische Laufbahn und Berühmtheit geebnet und die Breitenwirkung ihrer Werke gesichert: „ein Exil mit institutioneller und offizieller Rückendeckung.“ Ich kann hier nur für die Autobiographie Edward Saids sprechen,
die ich kürzlich im Original entdeckt und gelesen habe. Leider kenne
ich Eagletons Werk nicht. Der Originaltitel von Saids „Out of place“
wurde bei der deutschen Ausgabe mit „Am falschen Ort“ übersetzt. Zutreffender
wäre „Fehl am Platz“. So macht schon der Titel klar, daß es
nicht um die Darstellung eines Lebens im politischen Exil geht, also nicht
um die Mühsal dessen, der aus dem Eigenen herausgerissen und in die
Fremde geworfen wurde. Edward Said beschreibt den Zustand dessen, der von
Anfang niemals etwas „eigenes“ gehabt hatte. Einer, der nie und nirgendwo
dazugehörte, der nie den richtigen Stallgeruch hatte. Weder im „fremden“
noch im eigenen Land. Rocha zitiert richtig, deutet aber falsch, wenn Said
schreibt: „Ich habe nie gewußt, welche Sprache ich zuerst gesprochen
habe, Arabisch oder Englisch, oder welche davon zweifellos die meinige
war.“ Said braucht nicht mit der fremden Sprache zu kämpfen, ebenso
wenig mit der fremden Kultur: er wuchs in ihnen beiden parallel auf, ohne
eine von ihnen als „seine“ anzunehmen. Said lebte von Kindheit an in zwei
Kulturen, ja mehreren Kulturen – keine ließ ihn verwurzeln. Diesen
Zwiespalt schildert er. Ovid erlebte die Verbannung als Eingriff des Schicksals
von außen. Bei Said ist der Zwiespalt im Innern des Verfassers von
Kindheit an vorhanden. Das Schicksal eines Kindes, das von den Eltern und
den Kulturen für sich beansprucht wird – aber von keinem Menschen
und in keiner Kultur die Liebe findet, die ihm sein eigenes Wesen läßt,
so daß er sich daher nirgends heimisch fühlt. Said beschreibt
faszinierend den inneren sprachlichen und kulturellen Zwiespalt zwischen
arabischer Herkunft und Familie und frühester „moderner“ englisch-amerikanischer
Sozialisation noch während seiner Schul- und Studienzeit in
Kairo. Darum nehmen Kindheit und Jugend auch den größten Raum
seiner Autobiographie ein. Said und wohl auch Eagleton haben in ihrer Kindheit
und Jugend innerlich jene Fremdheits- und Entfremdungserfahrungen durchgemacht,
die Vergil erst im Erwachsenenalter durch die Verbannung aufgezwungen wurden.
Mit freundlichen Grüßen
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