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LESERBRIEF AN DIE FAZ,  nicht  abgedruckt 
 

8. Juni 2003 
(mit Überarbeitungen und Ergänzungen vom 29.6.03)


Essener und Frauen in Qumran
zum Artikel von Nicole Silbermann: "Was hatten Frauen in Qumran verloren. Die Texte vom Toten Meer sind spektakuläre Zeugen der jüdischen Antike. Eine Sekte soll dort ihre Schreibwerkstatt betrieben haben. Vieles spricht dagegen" 
FAZ Sonntagszeitung vom 08.06.2003

Sehr geehrte Damen und Herren,
das heutige Bild der zölibatären Essenergruppe ist wohl immer noch stark vom christlichen Wunschdenken, vor allem der einflußreichen Deutung des Archäologen und Dominikanerpaters Roland de Vaux, geprägt. Die essenische Lebensform wird zu gerne als Vorläufer christlicher Klosterordnung und –praxis betrachtet. Nach diesem Bild konnten Frauen und Männer natürlich nicht zusammenleben und  siedeln. Kinder konnte es in einer solchen Gemeinschaft schon gar nicht geben.

Nicole Silberman schreibt: "Bei den Untersuchungen der Gräber in Qumran wurden neben Männerskeletten auch Überreste von Frauen und Kindern gefunden. Für eine Essener Siedlung im strengen Sinn wäre dies undenkbar, da die Essener ja streng zölibatär gelebt haben sollen. Allerdings ergben die bisherigen Ausgrabungen ein sehr ungleiches Geschlechterverhältnis, das durch einen unterdurchschnittlichen Frauenanteil geprägt ist."

Als ich bei Vorstudien zu meinem Roman „Mirjam. Maria Magdalena und Jesus“ die Artikel über die Essener im „Jüdischen Krieg“ und den „Jüdischen Altertümer“ des jüdischen Zeitgenossen und Historikers Flavius Josephus nachlas, fand ich diese allgemeine Einschätzung zunächst bestätigt: 
Flavius Josephus: Der Jüdische Krieg,  II. Buch, 8. Kapitel 
Über die Essener: 

2. Es sind der Abstammung nach Juden, die sich jedoch in besonderem Grade einander verbunden fühlen. Sie lehnen jede sinnliche Lust ab und sehen darin eine Sünde, während sie die Enthaltsamkeit und den Widerstand gegen die Begierden als Tugend erachten. Über die Ehe urteilen sie abträglich, doch nehmen sie die Kinder anderer auf, solange sie noch. in einem bildungsfähigen Alter stehen, und sehen in ihnen Zugehörige und formen sie nach ihren Idealen. Damit lehnen sie die Ehe und die daraus entstehende Nachkommenschaft wohl nicht gemeinhin ab, doch sie verschanzen sich gegen die Lüsternheit der Frauen, von denen sie überzeugt sind, daß sie in keinem Fall einem einzigen Mann die Gattentreue bewahren.
Dann aber folgte zu meiner großen Überraschung folgende Stelle:
13.  Es gibt auch noch eine andere Gruppe von Essenern, die in            Lebensart, Sitte und Gesetzgebung mit den ersteren übereinstimmen und sich lediglich in der Anschauung von der Ehe von ihnen unterscheiden; denn sie glauben, wer auf die Ehe verzichte, vernachlässige einen wesentlichen Lebenszweck, nämlich die
Zeugung der Nachkommen, d. h. sie meinen, wenn alle so dächten,
dann sei es mit dem Menschengeschlecht bald zu Ende. Aber sie
prüfen ihre künftigen Ehefrauen drei Jahre lang, und wenn diese nach
einem dreimaligen Reinigungsvorgang ihre Gebärfähigkeit erwiesen
haben, dann wird die Ehe geschlossen. Während der
Schwangerschaft pflegen sie keinen Beischlaf, woraus hervorgeht,
daß sie nicht aus Gründen der Wollust, sondern des Kindersegens wegen heiraten. 
Weiterhin vermutete man, daß die Essner wegen ihrer Askese von anderen isoliert lebten. Dem widersprechen nun archäologische Befunde. Silbermann: "Die Siedlung muß seinerzeit in einer fruchtbaren Gegen mit Pflanzungen von Dattelpalmen und Balsamstauden gelegen haben". Sie zitiert den Wissenschaftler Stangenberg:
"Wenn unsere aktuelle Interpretation der Texte über die Essener stimmt, wonach sie eine isoliert lebende Sekte mit apokalytischer Ausrichtung waren, dann dürften die Bewohner der Siedlung strenggenommen keine Essener gewesen sein."

Bei dem zeitgenössischen Historiker findet sich jedoch folgende Stelle über die Essener: 

            4. Sie konzentrieren sich auch. nicht auf eine einzelne Stadt, sondern
            sie sind in großer Anzahl auf alle Städte verteilt. Essener, die
            anderswoher kommen, können über den ganzen Besitz der
            betreffenden örtlichen Gemeinschaft verfügen wie über ihren eigenen
            Besitz, und bei Leuten, die ihnen früher völlig unbekannt waren,
            gehen sie aus und ein wie bei alten Bekannten.

Die „Abgeschiedenheit“ der Frommen ist in der Tradition des Judentums nicht als physische Trennung von der „Alltagswelt“ zu verstehen, sondern als persönliche Entscheidung und Gelöbnis (Nasirat) zu einer anderen, reineren Lebensführung und damit zu einer besonderen Nähe zu Gott (meist zeitlich begrenzt). Wer sich zu der größeren Reinheit des Nasirats verpflichtete, verzichtete auf Wein, schnitt sich nicht die Haare und mied jeglichen Kontakt zu Toten. (vgl. Mischna und Talmud zum Nasirat). Auch Frauen und Sklaven konnten das Gelöbnis ablegen. Vermutlich haben die Essener den Gedanken des Nasirats ausgeweitet und auch die Sexualität als „gottfern“ verstanden und gemieden. Wie Punkt 4 bei Flavius Josephus zeigt, war es nicht notwendig, dazu eine räumliche Abgeschiedenheit herzustellen.

Ich meine, die unvoreingenommene Lektüre des Flavius Josephus kann leicht dazu verhelfen, falsche Einschätzungen und Deutungen erst gar nciht aufkommen zu lassen. Ich habe deshalb schon vor einiger Zeit die Essenertexte des Josephus Flavius als Hintergrundsinformation zu meinem Roman komplett auf meiner Homepage unter  www.regina-berlinghof.de/essener.htm veröffentlicht.

Es waren übrigens die Schilderungen des Flavius Josephus, die mich dazu anregten, die Rahmenhandlung meines Romans auszubauen und dem Erzähler, einem jungen Essener der Gemeinschaft von Qumran, eine Frau unter den aufgenommenen Kindern finden zu lassen – mit allen nachfolgenden Konflikten zwischen dem Zölibatseid und der Liebe zu seiner Frau.

Mit freundlichen Grüßen, 
Regina Berlinghof
 

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