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LESERBRIEF AN DIE FAZ, leicht gekürzt
abgedruckt
am 9.9.2003
21. August 2003
Anachronistische Mischna – und Mel Gibsons Film
zum Artikel von Klaus Berger von heute „Pilatus heißt die
Kanaille“.
Sehr geehrte Damen und Herren,
Der Heidelberger Theologe Klaus Berger, den die FAZ zu ihrem Hausexperten
erkoren hat, wenn es um Jesus und das frühe Christentum geht, schreibt
heute zum „Mord an Jesus“ und Mel Gibsons Jesusverfilmung.
Es geht um die Verantwortung für Jesu’ Verurteilung und Hinrichtung.
Waren es die Römer – „Pilatus heißt die Kanaille“ oder „die
Juden“ oder jüdische Autoritäten?
Daß heute immer noch um Schuld und Verantwortung in einem Prozeß
(oder zwei) gestritten wird, der vor zweitausend Jahren nach ganz anderen
Rechtsmaßstäben und Gesetzen stattfand, zeigt mehr von heutiger
christlich-theologischer Verdrängung und heimlichem Antisemitismus
als von historisch-kritischer Analyse.
Sokrates wurde von den damaligen griechischen Autoritäten zum
Trinken des Giftbechers verurteilt – aber kein Mensch sagt, „die Griechen“
hätten Sokrates umgebracht.
Giordano Bruno und Jan Hus wurden wegen Ketzerei verurteilt und hingerichtet
– kommt irgend jemand auf den Gedanken zu sagen, „die Christen“ hätten
Bruno und Hus getötet?
Das ganze Elend mit dem Prozeß und der Kreuzigung Jesu kommt
doch daher, daß man verbergen will, daß Jesus ein Jude war,
ein häretischer Jude, der von der damaligen staatlichen jüdischen
Autorität verfolgt und vermutlich an die Römer ausgeliefert wurde.
Prof. Berger hebt diesen Punkt sehr richtig hervor und bezieht sich
dabei auf das Johannesevangelium. Aber die „Wahrheit“ der anderen drei
Evangelien, die eine andere Darstellung geben, will er nicht in Frage stellen:
So lehnt er die von jüdischer Seite schon lange vorgebrachten
Argumente, daß die drei Evangelien sowieso nicht glaubwürdig
seien, weil es eine „nächtliche Verhandlung“ vor dem Synhedrion nach
der Mischna nicht geben durfte, als anachronistisch ab, weil sie nicht
die Verhältnisse zu Jesu Lebzeiten, sondern die des Beginns des dritten
Jahrhunderts nach Chr. beschreibe. In diesem Punkt hätte der Neutestamentler
vielleicht doch einen Blick in die Mischna werfen oder einen versierten
Rabbi befragen sollen: Die Mischna schildert nicht die Verhältnisse
am Beginn des dritten nachchristlichen Jahrhunderts, weil sie in der heutigen
Form gegen Ende des zweiten Jahrhunderts bereits zusammengestellt wurde.
Vor allem aber ist ihr Blick nicht auf die aktuelle Gegenwart und die geänderten
politischen und religiösen Verhältnisse seit der Zerstörung
des zweiten Tempels 70 n. Chr. gerichtet, sondern hat das Ziel, die Menge
der jahrhundertelang mündlich überlieferten Lehrsätze
zu schriftlich zu fixieren. In geradezu moderner wissenschaftlicher Form
zitiert die Mischna Lehrsätze, Meinungen und Streitargumente von Rabbinern
mit individueller Namensnennung als Quelle, angefangen aus der Zeit 200
vor Christus bis zur Niederschrift vierhundert Jahre später. (Kopie
aus meiner englischen Übersetzung von Herbert Danby, Oxford, in der
Anlage anbei). Ich zitiere aus Herbert Danbys Einführung: “Although
the Mishnah was compiled in its present form at the end of the second century,
it deals fully with phases of legislation and religious practice which
for more than a hundred years had ceased to have any practical bearing
on Jewish life.” und: “the Mishnah bears no trace of a tendency to effect
reforms in the Jewish religious and ceremonial usage or to evolve a new
scheme in closer accord with later conceptions of what the Law required:
on the contrary, it manifests a veneration for the letter of tradition
remarkable for pedantic insistence on verbal exactitude; and there was
a purposefulness about the work of the post-Destruction rabbinical schools
marking a determination to preserve as exact a knowledge as possible of
those aspects of life under the Law which were become the more precious
by reason of their present impossibility of realization.”) Die Mischna
spiegelt also sehr wohl die rechtlichen und religiösen Gegebenheiten
zu Jesu Lebzeiten wider. Die Zerstörung des Tempels bedeutete für
fromme Juden damals und heute noch lange nicht, daß nicht wieder
ein dritter Tempel errichtet würde. So hielt man die Regeln, die den
Tempel und das Priestertum betrafen, fest, ebenso die Regeln des Prozeßverfahrens
vor kleinen Gerichten und dem großen Synhedrion (Mischna, 4. Abteilung,
Nezikin, Sanhedrin). Dort findet man unter Punkt 4.1 die Vorschrift, daß
Prozesse um Kapitalverbrechen (wie Mord und Gotteslästerung) nur während
des Tages stattfinden durften, und auch das Urteil mußte während
des Tages gefällt werden. Ein Freispruch konnte am selben Tag verkündet,
eine Verurteilung jedoch durfte frühestens einen Tag später gefällt
werden. Die römische Gerichtsbarkeit unterlag natürlich nicht
diesen Regeln.
Wenn die Christen endlich zugeben und begreifen würden, daß
Jesus ein Jude war, daß alle Jünger und Apostel, daß Maria
und Maria Magdalena Juden waren – das Problem des kirchlichen Antijudaismus
und Antisemitismus würde wie Schnee in der Sonne dahinschmelzen.
Was sich damals tatsächlich abgespielt hat, bleibt vermutlich im
Dunkel der Geschichte.
Professor Berger betont zutreffend, daß der Straßenpöbel
im Lauf der Historie aller Völker Verfolgungen und unzählige
Hinrichtungen von Unschuldigen bejubelt hat. Ich möchte hinzufügen:
Im Abendland gehören dazu die Judenverfolgungen und -ermordungen,
Hexenverbrennungen, Kreuzzüge, Sklavenraubzüge und koloniale
Unterdrückung und Ausbeutung – und in jüngster Zeit die Morde
der RAF oder die Brandstiftung von Asylantenheimen. Nur bei der Hinrichtung
Jesu will man dafür seit zweitausend Jahren ein ganzes Volk in Haftung
nehmen.
Mit freundlichen Grüßen,
Regina Berlinghof
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