Der ersten verblüfften Stille folgte eine rege Diskussion. Über die Berechtigung des Wunsches gab es fraktionsübergreifend keinen Zweifel. "Aber was wird das kosten?" fragten die Schwarzen und "Das darf nicht nur für die Reichen gelten!" forderten die Roten. Die Grünen gaben zu Bedenken, daß eine solche Verlegung so umweltschonend wie nur möglich verlaufen müßte. Die Liberalen äußerten unter dem Beifall des ganzen Bundestages und sogar aller gelben und blauen Arbeitskreise, daß eine Eroberung oder Besiedlung fremder Länder nicht in Betracht käme. "Die Deutschen sind ein friedliebendes Volk und respektieren die Grenzen und Gebiete aller Länder. Von Deutschland wird kein dritter Weltkrieg ausgehen!" Da es auf Erden kein freies Land mehr gab, kam nur noch die Besiedlung der Weltmeere in die engere Wahl. Denn der Mond war zu weit und für die Besiedlung zu teuer. Und wer wollte darüber entscheiden, wer auf der erdzugewandten und wer auf der erdabgewandten Mondhälfte leben sollte! Das ganze Land über den Wolken anzusiedeln, würde die Atmosphäre derart mit Kerosin verseuchen, daß auch diese Alternative ernsthaft nicht erwogen wurde. Also entschied man sich für das freie Meer. Die ganze Bundesrepublik sollte im Maßstab 1:1 in die Nähe der karibischen Inseln verlegt werden. Nachdem das Ziel einmal deutlich vor Augen stand, verstummten auch die übrigen Einwände nach Kosten und Gerechtigkeit sehr schnell. Ein CSU-Mann machte seine Fraktionskollegen darauf aufmerksam, wie leicht in einer solchen Insellage die Einwanderer- und Asylgesetze durchzusetzen seien, und Gerhard Schröder sprach aus, woran die Genossen an der Basis sofort gedacht hatten: nämlich daß eine solche Umsiedlung neue Arbeitsplätze für Millionen schaffen würde.
Der Antrag wurde in seltener Einmütigkeit quer durch alle Fraktionen und unter dem Beifall aller Kommentatoren angenommen. In einem bundesweit gesetzlich extra neu geschaffenen Volksentscheid stimmten die Bürger mit 99 % für die Verlegung. Bei der praktischen Durchführung wollte man sich an das Konstruktionsprinzip des Wasserbettes halten, das sich seit langen Jahren auch in stürmischen Nächten bewährt hatte. Nur daß man dieses riesige Landbett nicht mit Wasser, sondern mit Luft füllen wollte. Also dem Prinzip einer Luftmatratze vergleichbar. Mit der ihnen eigenen Emsigkeit und Sturheit begannen die Deutschen, den Entscheid in die Tat umzusetzen.
Als erstes ging man daran, das ganze Territorium der Bundesrepublik parzellenweise aufzuteilen und meistbietend an das Ausland zu versteigern. Schließlich wollte man kein leeres Brachland in der Mitte Europas zurücklassen. Das Ausland, das verwundert und ziemlich ungläubig die Bundestagsabstimmung und den Volksentscheid beobachtet hatte, traute seinen Augen nicht, als die ersten Auktionstermine bei Sotheby's und Christie's aushingen. Dann gab es einen gewaltigen Aufschrei.
"Und wo bleiben die deutschen Touristen, wenn die alle unter strahlendem Himmel in der Karibik hocken?" schrien die Österreicher, Schweizer, Italiener, Spanier und Türken und auch die Hälfte aller Länder der dritten Welt. "Was wird aus den Gemeinschaftsproduktionen, die Deutschland mitfinanziert", fragten die Franzosen und Engländer pikiert. "Wer wird die EG finanzieren, wenn Deutschland aussteigt?" fragte man in Brüssel. "Sind die Deutschen noch zuverlässige Partner, wenn sie auf dem Meer schwimmen und sich in der Sonne aalen?" sorgten sich die Amerikaner. "Wo kämen wir hin, wenn das alle so machten!" fragten die Russen. "Wenn jemand Anspruch darauf hätte, in den Süden zu ziehen, dann wären wir das!" Viele Araber und manche Juden und Israelis bedauerten, daß Herzl nicht auf diese Idee gekommen war, wobei nicht immer ganz klar war, wer wen aufs Meer wünschte.
Die rege Reisediplomatie, die nun in Gang kam, brachte keine Lösung. Die Deutschen heuerten weltweit Ingenieure an, kauften Öl und Kautschuk, was das Zeug hielt, förderten und schmolzen Eisen zu Stahl wie zu Krupps Zeiten. Eine große Begeisterung hatte das ganze Volk erfaßt. Hinaus sollte es gehen, hinaus zu Sonne und Wärme. Griesgram und Groll schmolzen dahin wie Eis an der Sonne. Beflügelt von den kommenden lichteren Zeiten, packte jeder an und war erstaunlicherweise fröhlich, selbst bei Überstunden. Die Ausländer (und die Deutschen selbst) konnten es nicht fassen: Verkäufer und Verkäuferinnen lächelten sie an und fragten sie freundlich nach ihren Wünschen. Kein Service war ihnen zuviel. Die ersehnte südländische Sonne strahlte in vorweggenommener Zukunft bereits aus ihnen heraus.
Dann kamen Greenpeace und die Wissenschaftler mit neuen Bedenken: Die Wanderwege der Wale dürften durch eine solch massive Verlegung nicht gestört werden. Wenn andere Länder (z.B. die skandinavischen Staaten) folgten, welche Auswirkungen hätte das auf das globale Gleichgewicht der Erdkugel? Wenn sich am Äquator mehr Masse versammelte, würde das die Erdumdrehung verlangsamen. Der Tag würde länger, die Menschen müßten länger arbeiten - und all das nur wegen der verrückten Deutschen mit ihrem Traum vom ewigen Sommer! Und noch viel ernsthaftere Konsequenzen gäbe es zu bedenken: das Gleichgewicht der Meeres- und Luftströmungen könnte außer Gleichgewicht geraten. Als Folge könnte es zu einem radikalen Klimawechsel mit Erdbeben, Vulkanausbrüchen, zu hohen oder tiefen Temperaturen kommen. An der nächsten Eiszeit seien nur die Deutschen schuld! Und würden die Temperaturen steigen und die Polkappen schmelzen, könnte das sogar zu einem Umspringen der Pole führen, wie es erdgeschichtlich schon öfter vorgekommen sei. Sogar die ganze Erdachse könnte kippen und der Äquator zum neuen Südpol oder Nordpol werden. Mit anderen Worten: die Deutschen würden von gemäßigten Breiten in polare Kreise ziehen und plötzlich in Eiseskälte sitzen. Dann hätten sie zwar ein halbes Jahr lang kalte Sonne pur - dafür aber auch ein halbes Jahr eisige Non-Stop-Finsternis. Die Deutschen ließen sich nicht beirren. "Dann versteigern wir eben unser Land nicht, so daß wir notfalls zurückkehren können und halten es wie die Zugvögel."
Der Rest der Welt fand diesen Egoismus abscheulich. "Nur weil sie reich sind, glauben sie, sich alles leisten zu können! Sie leben in der Sonne und lassen es sich gutgehen, und lassen wüstes Brachland zurück!" "Wir könnten es Euch verpachten", antwortete der Außenminister, erntete damit aber weltweit nur Empörung. "Nun wollen sie ihr Abenteuer auch noch von uns finanzieren lassen", sagten sie und wiesen dieses Angebot entrüstet zurück.
"Ich habe eine Lösung," sagte ein kleines Kind. Ein richtiger kleiner Macchiavellino: "Laßt sie ruhig ihr Wasserland bauen. Wenn sie fertig sind und ihr Luftbett aufgeblasen haben, brauchen wir nur mit einer Nadel hineinzustechen, dann geht die ganze Luft raus und ihr neues Land ist à fond perdu. Dann kehren sie von selbst reumütig zurück - und sollten sie alle draußen im Meer versinken, ist ihr Festland herrenlos und wir können es an uns nehmen, ohne einen Pfennig dafür zu bezahlen." "Und dir gebührt die erste Wahl und der erste Zugriff", sagten alle und ließen die Deutschen in Ruhe ihr Karibikwasserland bauen.
Zehn Jahre später war es soweit. Die Deutschen übersiedelten mit Sack und Pack, Mann und Maus, Frau und Kind, Berg und Tal, Städten, Häusern und Parkanlagen, Kirchen und Minaretten (denn man schloß die Gastarbeiter nicht aus) in die karibische Bundesrepublik Deutschland. Man hatte auch an die Flüsse gedacht und Süßwasserläufe eingeplant. Man vergaß auch nicht die bedeutsamen Kulturgüter wie die Schlösser Ludwigs II. und die Wartburg. Die Deutschen fanden im neuen Wasserland alles so vor wie zuhause, nur daß das ganze Land von Wasser umgeben war. "Jetzt können wir uns wie die Engländer in splendid isolation üben!" sagten sie, mixten sich einen Longdrink mit Früchten, waren zufrieden und luden die Völker der Welt zu sich ein. "Ludwig II. und Meer und Sonne - das ist als touristische Attraktion unschlagbar", sagten sie, und die Touristen kamen angereist und waren begeistert. Nicht zuletzt auch wegen des freundlichen Service. Und in den Opernhäusern und in den Bayreuther Festspielen spielte man Mozart und Wagner und tanzte dazu einen sanften Hulatanz, den neuen "Swerve", der vorzüglich zu Wagner und Bruckner zu tanzen war. Die Regisseure inszenierten klassische und moderne Stücke in neuer heiterer Beschwingtheit und waren glücklich, als das Publikum (samt Touristen) in ihre Aufführungen strömte, die nun ständig ausverkauft waren. Und als das Kind mit der Nadel, inzwischen ein erwachsener Mann, angereist kam und in den Boden pieksen und die ganze Luft herauslassen wollte, fand er den Untergang eines solch fröhlichen Landes viel zu betrüblich, ließ sich an Ort und Stelle nieder, heiratete eine multikulturelle Ansässige (ob deutscher oder gastarbeiterischer Abstammung sei nicht verraten) und lebte froh und glücklich in diesem neuen Luftwasserland.
Und wenn die Erdachse nicht gekippt und die Pole nicht umgesprungen sind, leben sie alle so glücklich und zufrieden bis auf den heutigen Tag.
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