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WEB-Tagebuch Regina Berlinghof

November 2003
29.11.2003
Weihnachtsschmaus zum Fest der Liebe
Hr-Maintower, ein Programm des Hessischen Fernsehens, macht Reklame für den neuen Michelin-Stern eines Frankfurter Nobelrestaurants (Sendung vom 27.11.03). Empfehlung des Kochs zum Weihnachtsmenü: Vorspeise - Gänsestopfleber.
Die gestopften Gänse werden es dem Wirt, den Gästen und hr-maintower
danken, daß man sie fürs Fest der Liebe gequält hat. Hauptsache, die
Leber schmeckt und der Wirt hat seinen Stern bekommen. Dafür muß Gans
schon einiges in Kauf nehmen. Oder sollte man zum Ausgleich mal anfangen
die Menschen zu stopfen, bis sie würgen? Guten Appetit und frohes Fest der Liebe!
15.11.2003
Deutschlands Beste
Das ZDF sucht die 100 besten Deutschen. Zur Auswahl stehen u.a. Dieter Bohlen, Nena, Heino und Daniel Küblböck. Vor Albertus Magnus, Alexander von Humboldt, Friedrich Schiller, Richard Wagner, Otto Lilienthal, Nietzsche, Dürer, Friedrich II.. Abgeschlagen jenseits der 100 Nikolaus Kopernikus, Adam Riese, Freud, Planck, Schopenhauer, Kepler... Da weiß man doch, wozu man Gebühren für die öffentlich-rechtlichen Anstalten und ihren Kulturauftrag zahlt!
3.11.2003
Musil-Biographie (Corino)
Lahmgelegtsein durch einen gebrochenen Arm hat auch gewisse Vorteile. Ich finde wieder Zeit zum Lesen. Und da ich mit den Dauerschmerzen im Arm auch glaubte, mir etwas Gutes tun zu dürfen, habe ich mir die 2000 Seiten Musilbiographie von Karl Corino gegönnt. Schweineteuer, aber schön gemacht. Allein drei Lesezeichen für die drei Teile des Buches: Textteil, Anmerkungen, Register. Dünndruckpapier. Trotzdem bereitet es einige Mühe, den schweren Band im Schoß mit der linken Hand zu halten. Die Lektüre entschädigt für alles. Sehr angenehm zu lesen, bei aller Ausführlichkeit flüssig und nie langweilig geschrieben. Für mich viel Neues, da die intensive Beschäftigung mit dem Mann ohne Eigenschaften und seinem Autor Jahre zurückliegt. Mit seinen frühen Erzählungen (außer Törleß), Dramen, Schriften habe ich so meine Probleme. Man merkt ihnen die Zeit ihrer Entstehung an. Jugendstilüberschwang. Musils Lebensgeschichte bleibt fesselnd. Der fast aussichtslose Kampf eines Schriftstellers um Anerkennung, Verlage, Aufführungen und Leser. Kommt mir irgendwie bekannt vor.
Es geht so weit, daß eine Minierzählung davon handelt, daß ein Schriftsteller als Schneider ins Gefängnis will. Der Gedanke ans Gefängnis als ein sicherer und ruhiger Ort, um zu überleben, scheint nicht nur mir gekommen zu sein. Musil machte sein „Märchen vom Schneider“ daraus, ich einen Roman („Schrödingers Katharina“).
Bei Corino gibt es viele Auszüge, ich habe das Minimärchen in den Gesammelten Werken Band 7 (rororo Ausgabe) nachgelesen. Hier einige Highlights, allein schon der erste Satz sagt alles:
„Ich glaube nicht, daß es ein Schneider war.“
Dann der Angeklagte vor dem Richter: „Haben Sie Mitleid mit mir, Herr Richter, und sperren Sie mich für immer ein! Ich wäre glücklich darüber! Im Gefängnis könnte ich als Schneider arbeiten und brauchte nicht mehr hinaus in die Welt.“
„Ich wollte mit Ihr (der Bombe) meine Zeit in die Luft sprengen, weil sie mir nicht folgt, Herr Schutzmann, das sind meine Werke.“ Und:
„Das wird zwanzig Jahre nach meinem Tod eine Bombe sein!“ – Er hat Recht gehabt.
Ich will meine Zeit nicht sprengen. Nur meine Zeitgenossen erschüttern, verwandeln – in fühlende Wesen. Einer hat zu meinem Roman „Mirjam. Maria Magdalena und Jesus“ gesagt: „Die ist nicht zweitausend Jahre zurück – die ist mindestens hundert Jahre ihrer Zeit voraus." Doch wieder zu Musil: 
Faszinierend bei ihm immer die Passagen, die „den anderen Zustand“ berühren. Er beschreibt sie so sachlich und exakt wie möglich. Die Aufhebung der Grenzen und Abgrenzungen zwischen Menschen, Lebewesen, Dingen. Keine vollständige Erleuchtung, sonst hätte er nicht so experimentell mit Menschen im wirklichen Leben umgehen können. Auch nicht als auktorialer Erzähler, der seine Figuren oft nur an die Grenzen ihrer psychischen Kräfte führen will, um ihre Psyche aufzudecken. Liebte er seine „Schwärmer“? Beim Mann ohne Eigenschaften scheint mir dieses kalte, experimentelle Denken verflogen zu sein. Oder trügt mich die Erinnerung? Ich bin gespannt auf die Passagen zum MoE in der Biographie – zugleich ist der Wunsch wach geworden, das Mammutwerk wieder zu lesen. Schön, wie Corino allen Spuren nachgeht. Die Magie des Namens „Ulrich“ ist mir allzu bewußt – aber daß schon Ludwig Tieck ("Ulrich der Empfindsame") darüber geschrieben hat, lese ich mit vergnügter Überraschung.

 

 
 
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