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WEB-Tagebuch Regina Berlinghof

April 2004
14.04.2004
Verblendet
„Scharon: Wir bleiben im Westjordanland bis in alle Ewigkeit.“ (Schlagzeile der FAZ von heute). Und noch deutlicher wird der israelische Ministerpräsident vor den Siedlern im Westjordanland: Ihre Häuser würden „weitergebaut als Teil Israels, für die Ewigkeit. Diese Orte werden unter der Kontrolle Israels bleiben, das stärker werden und sich entwickeln wird.“
Also keine Chancen mehr für ein palästinensisches Staatsgebilde. Keine Aussichten für einen Frieden im Nahen Osten. Es wir einem angst und bange, wenn man Scharons Proklamationen liest, denn die Geschichte hat gelehrt, daß die Realisierung von solchen Ewigkeitsparolen leicht in ihr Gegenteil umschlägt. 
13.04.2004
Mel Gibsons "Passion of Christ" und Wagners "Parsifal"
Nach den barbarischen Strafaktionen der Antike in „Passion of Christ“ – genauso barbarisch in Szene gesetzt von Mel Gibson, folgte am Freitag die konzertante Aufführung des Parsifal, von einem Meisterpsychologen geschaffen, der die Barbarei des Christentums in ein Kunstwerk verwandelt. 
In der „Passion“ geht es um Leiden eines schuldlosen jüdischen Menschen, der in den Augen seiner jüdisch/römischen Obrigkeit als Gotteslästerer und Aufrührer verurteilt und erbarmungslos gefoltert und gekreuzigt wird.
Im Parsifal muß der Gralskönig Amfortas an einer tödlichen Wunde qualvoll fortleiden, weil er „unkeusch“ und nach christlichen Moralvorstellungen damit nicht ganz schuldlos seine Wunde empfing und nun seine Sünde im Dienst des Gral abbüßen soll. So fordern es erbarmungslos seine christlichen Mitbrüder und Mitstreiter: „Du büß im Amte deine Schuld“. Erst ein Tor, unverbildet von christlichem Sünde- und Schulddenken, ist fähig, mit diesem leidenden König Mitleid zu empfinden. Weil er sich vom Gefühl leiten läßt – und nicht von irgendwelchen religiösen Dogmen: seien sie jüdisch, christlich oder sonstwie begründet. Erst Parsifal – „durch Mitleid wissend, der reine Tor“ kann dem Leiden des Amfortas ein Ende bereiten und ihn von seinem Amt erlösen. 
Bei Wagner noch offen, aber als Problem schon angedeutet: die Naturfeindlichkeit der Christentums: Ein Gralsknappe zu Kundry: „Was liegst du da wie ein wildes Tier“. Sie: „Sind die Tiere hier nicht heilig?“. Und die Frauen spielen sowieso keine Rolle, höchstens als Dienerin. Aber. „Erlösung dem Erlöser!“
Wagners letzte Notizen vor seinem Tod: „Über das Weibliche im Menschen“. 
Kaum ein Künstler vor Wagner hat so hellsichtig das dunkle Weltbild des Christentums vor Augen geführt:
Der Mensch ist böse von Natur aus, die Natur selbst ist schlecht – Mensch und Natur müssen erlöst, d.h. entsündigt werden. Die Liebe Gottes geht über den Weg des Opfers, des Opferns und des Leidens.
Gott hat den Menschen und die Natur aus Liebe erschaffen –  so sagt das Christentum: Aber nach der Bibel sieht Gott den Menschen ziemlich scheel und lieblos an. Darum schickt er seinen Sohn und opfert ihn. Und selbst danach glauben die Christen immer noch, daß sie sündig („Erbsünde!“) auf die Welt kommen und der Erlösung und eines Erlösers für ihre ständigen Missetaten brauchen. 

Wieso bringt man den Leuten (und vor allem den Kindern!) nicht bei, daß Gott alle Wesen liebt, die Kinder ganz besonders und daß sie nicht erst einen Vermittler brauchen, der für sie am Kreuz sterben muß?
Wissen nicht alle Psychologen, daß man mit Liebe und Vertrauen Menschen zu sozialfähigen und liebesfähigen Menschen erzieht, während Kinder, die ständig mißtrauisch beäugt werden, ihrer selbst mißtrauisch werden und es schwerer haben, tragfähige soziale Bindungen aufzubauen. Sie neigen leichter zu Fehlverhalten – zur „Sünde“. 
 

7.04.2004
Mel Gibsons "Passion of Christ" - nach dem Kinobesuch
Als ich das Kino verließ, war der Himmel draußen so dunkelgrau und mit schweren Wolken bedeckt wie der immer dräuende Himmel in „Passion of Christ“. Nur im Westen schaffte es die  untergehende Sonne, von hinten ein paar Glanzlichter auf die Wolkenränder zu setzen. 
Wirklich ein einziger Blutrausch, dieser Film. Die Leiden, die Demütigungen eines Menschen hämmern so ungefiltert und penetrant auf die Augen, daß man sich irgendwann abschottet und verweigert, worauf der Film zielt: Mitleid, Schuld, Buße und was sonst noch aus dem religiösen Medizinkasten. Es hat Filme gegeben, deren Leiden mich tiefer anrührte: Yves Montand in „Z“ zum Beispiel. Es hat unzählige Filme gegeben, in denen ich geheult habe. Aber hier nicht. Hier leidet „Gottes Sohn“, und das ist was ganz besonderes, also muß er besonders leiden. Die Leiden der Normalmenschen spielen keine Rolle, die Leiden der beiden Verbrecher, die mit ihm gekreuzigt werden, sind nur die verdiente Strafe, lösen beim Regisseur keine besondere Aufmerksamkeit oder gar Mitleid aus. Ganz am Anfang des Films tritt Jesus eine Schlange nieder, die ihm ein mannweibliches oder weibmännliches Teufelswesen vor die Füße zaubert. Mit der Gewalt gegen die Schlange geht alles schon los. 
Da hilft es auch nicht mehr, daß Jesus das Ohr des Hauptmanns wieder anwachsen läßt, das ihm Petrus im Kampf abgeschlagen hat. Wieso ist die Schlange böse, wieso muß sie totgetreten werden? Eine harmlose Kreatur – ein Geschöpf Gottes wie die Menschen auch. 
In diesem Film gibt es Ungereimtheiten und Unstimmigkeiten zuhauf: 
Die römischen Soldaten führen sich wie eine Horde von Sadisten auf. Als ob die Römer nicht schon vor 2000 Jahren für ihre Disziplin berühmt gewesen wären. 
Der Hohepriester wirft eigenhändig Judas den Beutel mit den 30 Silberlingen zu. Man stelle sich vor, der Papst würde selbst einen kleinen Informanten (von Opus Die vielleicht?) entlohnen! Mit solchen Kleinigkeiten haben sich Herrscher – ob weltlich oder geistlich niemals persönlich abgegeben. Sie wandern auch nicht zum Gerichtshof der „Besatzungsmacht“ mit. Dafür gibt es Sonderbeauftragte, Diplomaten,. Boten. Noch weniger gehen sie zu Hinrichtungen. Herrscher treffen nur ihresgleichen. Hohepriester verkehren mit Gott und nicht mit verurteilten Gotteslästerern, ebenso wenig wie George Bush sich persönlich um noch nicht verurteilte Gefangene von Guantanamo kümmert.
Ein Priester und erst recht ein Hohepriester von damals hätte eine Hinrichtungsstätte wie die Pest gemieden, weil sie nach jüdischer Religion das unreinste ist, das man sich nur vorstellen kann. Selbst heute meiden strenggläubige Juden alle Stätten, die mit Tod zu tun haben. Friedhöfe, Gräberfelder machen unrein. Der Strenggläubige muß sich nach dem Besuch einer rituellen Reinigung unterziehen. 

Pontius Pilatus und seine Soldaten sind äußerst sprachbegabt und reden mit den Einheimischen nicht nur in Latein oder Griechisch (im Film nur Latein), sondern auch die Landessprache. Frage: wie viele Amerikaner im Irak können sich auf Arabisch verständigen? Wie viele Kolonialbeamte aller Zeiten und Kulturen beherrschten tatsächlich die Landessprache der von ihnen beherrschten Völker? Vielleicht die Gelehrten in ihrer Begleitung, aber die Gouverneure und die hohen Verwaltungsbeamten - von einigen wenigen interessierte Ausnahmen abgesehen? Lernten Kolonialbeamte etwa Hindi, Malaiisch, Hottentottisch, Suaheli, Arabisch, Navahoindianisch usw.?

Es war interessant, den „Originalsprachen“ zuzuhören: Latein mit italienischem Zungenschlag (Italienisch, das es damals noch gar nicht gab!). Also kein „g“ vor i und e, sondern ein weiches „dsch“. Das Aramäisch zeigt seine Verwandtschaft vor allem zum Arabischen. Was damals im Heiligen Land tatsächlich gesprochen wurde, weiß heute kein Mensch mehr. Die Diskussionen der Fachleute füllen Bücherregale. Vermutlich ein Gemenge aus Hebräisch und Aramäisch: Aramäisch, die Sprache der Landesnachbarn und Überlandhändler (von den Nabatäern betrieben) – die lingua franca des Vorderen Orients der damaligen Zeit. Dazu auf Seiten der Gebildeten Griechisch (alte Kolonialherren seit Alexander dem Großen) und Latein bei der Zusammenarbeit mit den neuen Kolonialherren. Hebräisch, was man von der Bibel her geläufig war – und als Dialekt sich erhalten hatte.
Die Priester im Film benutzen Aramäisch wie die einfachen Leute, dabei lag ihnen das Hebräische doch viel näher. Aber so spricht der Hohepriester von „Talatin“ für 30 wie im heutigen Arabisch und nicht von schloschim, was zu erwarten wäre. „Ismi“ statt „schmi“ für „höre“ (an eine Frau gerichtet)
Aramäische Sprachsprengsel scheinen sich bis ins heutige Arabisch erhalten zu haben. So fragt einer im Film „wo“ und benutzt dafür das Wort „wen“ (englisches w, e lang), das palästinensische Araber noch heute benutzen und das allenfalls auf höchst verwinkelten Umwegen seine Entsprechung im klassischen Arabisch findet. Dort heißt wo: „Aina“. 
Dank der Untertitel konnte ich im Aramäischen und Lateinischen manches sicher schneller verstehen als ohne. Die Selbstverwünschung des Mobs „Sein Blut komme über uns“ wird von Gibson im Film aramäisch zitiert – wird aber als deutscher Untertitel rücksichtsvoll ausgelassen. Wozu auch neue Religionskriege anzetteln oder den Rassenwahn schüren?

Ein Film, den ich dank der Vorwarnungen über seine Gewaltorgien mit großer Distanz gesehen habe. Noch etwas? Ach ja: Die Frauen blicken stumm in dem ganzen Film herum. Ich glaube, mehr als drei Worte hat mann ihnen nicht gegönnt. Dafür dürfen sie statt der Zuschauer heftig und stumm mitleiden. Gibson hat keine Ahnung von der Wortmacht orientalischer Frauen, und die ungehemmten Schreie trauernder Frauen dort (ganz zu schweigen von den professionellen Klageweibern) sind ihm vermutlich auch noch nie ans Ohr gedrungen. Aber der Film wurde ja auch nicht in Jerusalem, sondern irgendwo in Italien gedreht. Obwohl die Frauen dort auch nicht gerade mit Stummheit geschlagen sind. Offensichtlich hat Gibson zu viele Bilder und Abbilder der leidenden Maria gesehen – da gibt es keine Schreie und Klagen. Also drehte er einen Frauenstummfilm. Nur die Musik durfte in allen Kitschfacetten schwelgen und dröhnen. 
Schluß. Mehr nicht. 
 

4.04.2004
Klassenkampf und ein ketzerischer Banker- Zitat der Woche
"Vorstandsbezüge im zweistelligen Millionenbereich sind eine Anstiftung zum Klassenkampf." - Der Schweizer Bankier Julius Bär in seiner Autobiographie "Seid umschlungen, Millionen" (Verlag Orell Füssli), zitiert nach der FAZ vom 26.3.04
 
 
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