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WEB-Tagebuch Regina Berlinghof

Juni 2005
28.06.2005
Gefügigmachen und Sprachliebe

Die Leiterin des Frankfurter Literaturhauses Maria Gazzetti zeigt ein merkwürdiges Verhältnis zur Sprache: Sie lädt zur Schreibwerkstatt für Jugendliche und künftige Schriftsteller ein, wo sie zwei Tage lang lernen sollen, "wie man sich Sprache gefügig macht". (Zitat der FAZ von heute entnommen).
Seit wann macht man sich gefügig, was man liebt?
  
26.06.2005
Aus für Orientalistik und Judaistik in Frankfurt? - 2. Teil
(Und hier ein Leserbrief an die FAZ, vom 16.6.2005 zur Glosse "Orientexepress" von Jürgen Kaube vom 16.6.2005. Der Leserbrief wurde bislang nicht abgedruckt. Ich bringe ihn hier in erweiterter Form).
Offensichtlich spielt es für die Stadt Frankfurt und eine Frankfurter Zeitung namens Frankfurter Allgemeine Zeitung keine Rolle mehr, wenn Universitätsinstitute ihrer Stadt geschlossen werden.
Fächer wie Judaistik, Orientalistik und Turkologie können also schmerzlos an Marburg abgegeben werden. Wozu sollte man auch in einer Stadt, die auf ihre Internationalität so stolz ist, noch Hebräisch, Arabisch, Persisch oder Türkisch lernen? Was gehen uns Länder wie der Iran, die arabischen Staaten und die Türkei heute noch an? Wir interessieren uns weder für ihre Ölfelder oder ihre politische Machtstellung im Nahen Osten, noch für ihre Hochkulturen – dafür haben wir ja ihre Gastarbeiter. Was geht uns in Frankfurt mittelalterliches Hebräisch und Jiddisch an? Soll sich doch die jüdische Gemeinde um sich selbst kümmern. Es interessiert uns auch nicht, was die Menschen des Nahen Ostens heute bewegt. Wir brauchen keine Leute mit Orientsprachkenntnissen. Wir lesen nicht deren Zeitungen, Internetseiten, schauen uns auch nicht deren Satellitenfernsehen an. Frankfurt braucht auch nicht zu wissen, was sich in ihrer Stadt möglicherweise an radikalen nahöstlichen Vereinigungen zusammenbraut. Wenn solche Leute wie Usama bin Ladin wieder ein Hochhaus abschießen, werden wir schon erfahren, was diese Typen wollen.
Es müssen ja höchstens sechzig Hauptfachstudenten nach Marburg umziehen – gerade mal eine Stunde mit der Bahn oder dem Auto entfernt. Als wenn es sonst keine Nutzer aus der Stadt oder der Region gäbe, die von den Institutsbibliotheken und den Fachkenntnissen der Lehrkräften profitierten. Aber da sie nicht in den Statistiken auftauchen, existieren sie für die Kulturpolitiker und Herrn Kaube nicht. Wir lassen also ungerührt den Braindrain aus unserer Stadt und aus der Rhein-Main Region zu. Hat Frankfurt denn schon die Verarmung durch den Zwangsexodus jüdischer Frankfurter Bürger geistig und kulturell verkraftet?
Es ist durchaus sinnvoll die Orientalistikfächer der Marburger und Gießener Universität zusammenzulegen. Allerdings hat man in den letzten Jahren Gießen schon so kleingemacht, daß man offensichtlich Frankfurt beiziehen muß, um ein lebensfähiges Institut in Mittelhessen aufrechtzuerhalten.
An die politischen Köpfe im Stadtparlament und im Hessischen Landtag und der Hessischen Landesregierung: endlich weniger Förderung von Eventkultur, dafür eine bessere Ausstattung für fundierte Studien und Bibliotheken in Mittelhessen und in Frankfurt. Das wäre der Weg für ein Kulturland und eine internationale Wirtschafts- und Kulturstadt. Schon mal was von Humboldt gehört?

Nachtrag: Der Tenor in den Nachrichtenblättern (Rundschau und Leserbriefe in der FAZ) beschränkt sich vor allem auf die Schließung der Judaistik in Frankfurt, und läßt die „orientalischen Fächer“ ohne Kommentar ziehen. Es ist wirklich merkwürdig und erstaunlich, daß der Orient und seine Kulturen hierzulande so wenig interessieren. Trotz oder wegen den Märchen aus 1001 Nacht? Schon Goethe mußte die Erfahrung machen, daß seinem Brückenschlag zum Orient wenig Resonanz beschieden war. Von der Erstauflage des Westöstlichen Divan gab es
beim Verlag im Jahre 1900 noch immer unverkaufte Exemplare!
Trotz des modernen Tourismus scheint es bei innerer Distanz zur Kultur geblieben zu sein.
Schade auch, daß die Stimmen, die sich gegen die Schließung des Judaistikinstituts richten, eher die eigenen Wurzeln im Orient für vernachlässigbar halten und allein auf die eigenständige deutsche Entwicklung im Mittelalter setzen.
Dabei wurden die Bibel, die mündliche Lehre (Halacha), die Mischna und der Talmud im Orient entwickelt und zu Papier gebracht. Alle Studien des Judentums stützen sich auf diese Werke. Der babylonische Talmud wurde im sechsten Jahrhundert in den Lehrstätten Babyloniens verfaßt, die endgültige Fassung wurde vermutlich um 700 abgeschlossen (Wikipedia), der Jerusalemer Talmud wurde wahrscheinlich in Tiberias in der Mitte des sechsten Jahrhunderts abgeschlossen.
Alle mittelalterlichen Kommentatoren wie Maimonides oder Raschi kommentieren den Talmud und argumentieren nicht im luftleeren Raum. Ohne den Talmud mit seinen Bestandteilen der Mischna und Gemara, ohne die Zusatzschriften wie Tosefta und Tosafot, wäre ihre Arbeit nicht denkbar. Genausowenig wie man ohne die Bibel, Aristoteles, die Platoniker und die (orientalischen!) Kirchenväter die mittelalterlichen Theologen Albertus Magnus, Abaelard oder Nicolaus von Cues nicht verstehen kann.
  
11.06.2005
Aus für Orientalistik und Judaistik in Frankfurt?
(Dies ist der komplette Leserbrief an die Frankfurter Neue Presse, der heute gekürzt abgedruckt wurde).
Noch kein Jahr ist verstrichen, seitdem die Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth und der hessische Ministerpräsident Roland Koch in noblen Reden auf der Frankfurter Buchmesse die Internationalität Frankfurts heraushoben, „die die Messestadt zum richtigen Standort für geistiges Ringen mache, an dem sich nicht nur die Buchbranche austausche.“ Ehrengast der letzten Buchmesse waren die arabischen Länder. Offensichtlich erschöpfte sich aber das geistige und kulturelle Ringen der beiden Politiker im Halten ihrer Reden, denn für die Basis zur Auseinandersetzung und zum Austausch mit dem Orient haben sie kein Geld mehr.
Das Institut für Orientalistik, ebenso wie die Institute für Turkologie und Judaistik der Universität Frankfurt sollen geschlossen und in Marburg mit dem dortigen Seminar für Semitistik zusammengelegt werden. Wie soll ein fundierter Austausch geschehen, wenn nicht durch das Erlernen der Sprachen, das Studium der Literatur, das Verständnis der Medienberichte im Original, egal ob in einer Zeitung, im Fernsehen und Radio oder im Internet? Was darf man noch von der „Internationalität der Messestadt Frankfurt“ halten, wenn ausgerechnet in dieser Stadt die Ausbildung und Forschung orientalischer Sprachen gestrichen und die dazu gehörenden Bibliotheken geschlossen werden? Brauchen die Banken und internationalen Firmen in Frankfurt etwa keine arabisch, persisch, türkisch und hebräisch sprechenden Mitarbeiter? Und auf welcher Grundlage soll das kulturelle und geistige Ringen stattfinden – über Comicbilder etwa? Aber selbst die brauchen zum Verständnis noch Sprechblasen.
Frankfurt hat die größte jüdische Gemeinde Hessens, aber das Studium der Judaistik soll hier nicht mehr möglich sein. Wie sollen Juden und Nichtjuden in und um Frankfurt die jüdische und Kultur und Religion, die Sprache des alten und modernen Israels kennen- und verstehenlernen, wenn es hierfür keinen Ort mehr gibt?
Offensichtlich halten die hiesigen Politiker, darunter auch der Hessische Minister für Wissenschaft und Kunst, Udo Corts (ehemaliger Stadtrat in Frankfurt und Vorsitzender der Frankfurter CDU!), das Studium orientalischer Sprachen immer noch für ein Orchideenfach: schön, teuer und nutzlos, aber bestenfalls einmal im Jahr als schöne Dekoration zum Vorzeigen geeignet (siehe Reden zur Frankfurter Buchmesse).
Noch einiges persönliches: Nach meinem Kibbuzaufenthalt vor über dreißig Jahren hatte ich das Glück, während meiner Jurareferendarzeit in Frankfurt die im Kibbuz angefangenen Hebräischstudien am Frankfurter Institut für Judaistik fortsetzen zu können und dazu auch noch Arabisch am Institut für Orientalistik zu lernen. Ich liebte den Orient und wollte einfach mit den Menschen dieser Länder direkt sprechen können. Meine Studien verhalfen mir zur Wahlpflichtstation bei einem israelischen Anwalt in Jerusalem und zu einem Jura-Forschungsstipendium des DAAD in Kairo nach dem zweiten Staatsexamen. Auch wenn ich später nicht als Juristin arbeitete: als Schriftstellerin, Herausgeberin und Verlegerin konnte ich bei Recherchearbeiten in den vergangenen Jahren immer wieder auf die Bibliotheken der Institute zurückgreifen. Und wenn ich einmal nicht weiterkam, zeigten sich die Mitarbeiter ausgesprochen hilfsbereit. Ein Nutzen, den die Zahlen der Uni-Statistiken überhaupt nicht wiedergeben können.
Als ich vor einer Woche für neuerliche Recherchearbeiten die Dantestraße aufsuchte, erfuhr ich – zunächst ungläubig, dann immer entsetzter – von der geplanten Schließung. Die Mitarbeiter hatte man übrigens am Tag vor Fronleichnam per Aushang einer bereits im Internet veröffentlichten Presseerklärung in Kenntnis gesetzt. Man wollte sich wohl das geistige Ringen mit den Lehrkräften und Studenten ersparen.
Nichts gegen Marburg. Aber wissen die verantwortlichen Politiker überhaupt, was sie tun, wenn sie die Stadt Frankfurt und die Rhein-Main-Region solcher „Orchideenfächer berauben? Aber Politiker scheinen ja immer erst aufzuwachen, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Was man hat, schätzt man gering – bis es nicht mehr da ist. Bei der Verlegung der Buchmesse nach München merkte man auch erst in letzter Minute, welch ein Verlust an Internationalität, Kultur und Wirtschaftsmacht Frankfurt erleiden würde. Ich kann nur hoffen, daß man in Sachen Orient- und Judaistikstudien an der Frankfurter Universität ebenfalls bald die Augen aufmacht!
  
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