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WEB-Tagebuch Regina Berlinghof


September 2005
27.09.2005
Öffentlicher Nahverkehr und Umweltbewußtsein
Eine defekte Lichtmaschine im Auto läßt mich wieder mit den Segnungen des öffentlichen Nahverkehrs in Berührung kommen. Wirklich ein großes Plus: In der U-Bahn kann man lesen - vorausgesetzt man ergattert einen Sitzplatz. Vor allem aber verführt die Bahn zum Warten in vollgestopften Zügen und zu stehenden oder abgeschalteten Rolltreppen. Besonders erfreulich, wenn man gut bepackt ist und der Weg nach oben führt. Morgen soll mein Auto fertig werden. Es bedeutet, eine halbe Stunde später aus dem Haus müssen und mindestens eine halbe Stunde früher nach Hause kommen. Ich muß gestehen, daß mein Umweltbewußtsein im Berufsverkehr nur mäßig pocht.
19.09.2005
Self-fulfilling prophecy - Nach der Bundestagswahl
Als Gerhard Schröder nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen feststellte, daß seine Regierung nicht mehr das notwendige Vertrauen genieße und er deshalb die Vertrauensfrage stellen und Neuwahlen ausschreiben müsse, hatte er im Bundestag eine satte Regierungsmehrheit. Die SPD war die stärkste Partei im Parlament.
Nun hat er den Salat:
Die Geister, die er rief, die wird er nun nicht los. Die Mehrheit verloren, nur noch zweitstärkste Partei. Die Wähler haben die Vertrauensfrage beantwortet.
10.09.2005
Katrina, USA und Dritte Welt
Ich hatte Hemmungen, mich zu dem Desaster in New Orleans zu äußern. Aus der Ferne sehen Rettungsmaßnahmen immer leichter und einfacher aus als vor Ort. Aber zwei Punkte beschäftigen mich immer noch:
  1. Die Tage vor und kurz nachdem Katrina zugeschlagen hatte: Ich vergleiche die Bilder, die CNN liefert von den Bildern der Elbe-Flut 2002 und den Überflutungen im Alpengebiet dieses Jahr. In Europa sah man zwar auch die Bilder von Eingeschlossenen, von Hilferufenden und von spektakulären Rettungen. Aber man sah auch die Menschenketten, die Sandsäcke füllten, weiterreichten und den Wassermassen entgegenstopften. Die Bilder von den Dämmen, auf denen Menschen standen und schufteten, um den Einbruch der Wasser zu verhindern. Man sah, wie schon in den ersten Tagen Helfer aus allen Ecken des Landes zu Hilfe eilten, um Lebensmittel zu bringen und beim Sandsackfüllen mitzuhelfen.
In New Orleans sah man gebrochene Dämme und überlaufende Wassermassen, aber nirgendwo Menschen, die dagegen anzukämpfen versuchten.
In New Orleans sprach man von Plünderern. Aber was sollen Menschen denn tun, wenn sie von Wasserfluten eingeschlossen sind, wenn der Staat ihre Evakuierung zwar befiehlt, aber den autolosen Mitbürgern keine öffentlichen Transportmittel und Verpflegung anbieten kann? Man kann Menschen doch nicht in den Superdome rufen und dann keinerlei Verpflegung organisieren. Anstatt die Schulbusse der Stadt zu nutzen, um die Menschen herauszubringen, ließ man sie mit Wasser vollaufen.
Man sah eine hilflose Gouverneurin, einen verärgerten Bürgermeister und den Überflieger-Präsidenten Bush, der sich nicht einmal in die Stadt hineinwagte.
Wieso war es möglich, daß CNN und andere Fernsehsender direkt aus dem Katastrophengebiet berichten konnten, die Reporter zum Teil bis an die Hüfte im Wasser stehend, und den staatlichen Hilfsstellen war es erst nach fünf Tagen möglich, Lebensmittel in die Stadt zu bringen und die Eingeschlossenen im Superdome zu evakuieren? Wieso war es möglich, Soldaten gegen die Plünderer in die Stadt zu schaffen, aber keine Lebensmittelkonvois für die Eingeschlossenen?
  1. Und damit komme ich zum zweiten Punkt: Dem wiederholten Vergleich der katastrophalen Zustände in New Orleans mit denen der Dritten Welt, wenn dort etwas passiert. Kein Unterschied zwischen dem reichsten Land der Welt, den USA, und der Dritten Welt?
Man sollte nicht glauben, daß die Grenzen zwischen Erster und Dritter Welt entlang der Nationalstaatsgrenzen verlaufen. Man sollte auch nicht glauben, daß es in den Ländern der Dritten Welt nur Arme gäbe. Im Gegenteil. Dort gibt es reiche Leute – wirklich Reiche, die in palastartigen Villen leben können, die mit bester Ausbildung an den westlichen Universitäten groß geworden sind und die sich in New York, London und Paris so zuhause fühlen wie in ihrem Heimatland.
Was die Dritte Welt von der Ersten Welt unterscheidet, ist die Zweiteilung der Bevölkerung in eine kleine Gruppe der Superreichen („die fetten Katzen, die die Sahne wegschlecken“, wie man in Ägypten sagt) und die große Mehrheit der Armen und wenig Gebildeten. Die Kluft zwischen beiden Bevölkerungsgruppen ist nicht nur materiell, sondern auch kulturell, ideell. Die Reichen mit ihrem westlichen Lebensstil verstehen sich besser mit den Reichen der übrigen Welt als mit den Armen ihres eigenen Landes. Und umgekehrt gilt: Die Armen aller Länder verstehen sich untereinander besser als mit den Reichen ihres eigenen Landes. Für die Reichen sind ihre armen Landsleute rückständig, abergläubisch, nicht intelligent genug. Es mangelt ihnen an Ausdrucksweise und Benimm. Man verkehrt nicht mit ihnen. Im Grunde ist eine Haltung wie die der Adligen in früheren Zeiten: die Armen sind nicht nur arm, sie sind Menschen zweiter Klasse. Man fühlt sich für sie nicht verantwortlich. Nicht für ihr materielles Wohlergehen, nicht für ihre Gesundheit, nicht für ihre Bildung. Es ist diese Gleichgültigkeit der Oberschicht gegenüber dem Schicksal der Armen und Schwachen, die die DrittWeltLänder kennzeichnet.
Genau diese Abgrenzung und Gleichgültigkeit der Reichen gegenüber den Armen macht sich auch in den USA und im Gefolge davon auch in Europa breit. Die Zustände in New Orleans machen nur deutlich, was sich schon lange abzeichnete: Die Senkung der Steuern ausgerechnet zugunsten der Einkommenssteuerstarken und zulasten des staatlichen Sozialausgleichs. Die Abschottung der Reichen in ihren Superghettos, die sie von privaten Sicherheitsleuten bewachen lassen. Die Abschottung ihrer Kinder von denen der „anderen“ durch Privatschulen und Privatuniversitäten, so daß sie die Armen später nur als untergebene Angestellte oder als Dienstboten und Hauspersonal kennenlernen, doch niemals von gleich zu gleich. George W. Bush ist ein typisches Beispiel dieser reich geborenen Kinder – immer behütet und beschützt von Mummy und Daddy, bis hin zum „Ersatzdienst“ in der National Guard als flotter Pilot anstelle vom Dienst in Vietnam. Später behütet und beschützt von Mummies und Daddies reichen Freunden, wenn er ein Unternehmen wieder mal vermurkst und in den Sand gesetzt hatte.
Schon am 11. September 2001 war er erst zur Stelle, als alles sicher war und er sich im Licht der Scheinwerfer der Medien sonnen konnte, sein Arm demonstrativ um die Schulter eines Feuerwehrmannes gelegt.
Das Beschämende bei der Katastrophe nach Katrina ist, daß die Hilfsaktionen nicht in Gang kamen angesichts der Menschen, die hilflos auf den Häuserdächern saßen oder zusammengepfercht ohne Essen und Trinken im Superdome ausharren mußten, sondern erst nach massiven Vorwürfen der Passivität der Verantwortlichen. Es ging ihnen nicht um Mitleid und Hilfe – es ging ihnen um das eigene Prestige in der Öffentlichkeit. Das ist noch das einzige, was zählt.
Geradezu peinlich war die Pressekonferenz der Ex-Präsidenten Clinton und Bush sen. anläßlich der Gründung ihrer Stiftung. Es wurde zu einer Werbesendung für Walmart. Ausgerechnet der Konzern, der seine Angestellten bis aufs Hemd ausnutzt und Steuern spart, wo es geht. Kaum aber geht es um ein Spektakel, in dem man sich groß zur Schau stellen kann, schon sind die Konzerne dabei und spenden. Best angelegte TV-Werbezeit!
Steuern zahlen ist eine unspektakuläre Pflichtübung, die nur höchst indirekt dem Steuerzahler wieder zugute kommt. Und Reiche geben in dem Fall mehr als daß sie bekommen. Wie anders die Spenden-Kür vor der staunenden und beifallklatschenden Öffentlichkeit. Man spendet, wo es nicht nur den direkten Empfängern zugute kommt, sondern vor allem einem selbst und der eigenen Stellung, dem eigenen Unternehmen, der eigenen Partei und der Beförderung zum nächsten angestrebten Amt.
Die Dritte Welt ist in den Vereinigten Staaten schon längst eingezogen. Nicht nur in New Orleans, nicht nur in den Armenvierteln der Schwarzen. Sie sitzt in den Köpfen der Reichen und Privilegierten und all derer, denen es nur um ihr eigenes Fortkommen und ihren eigenen Reichtum geht. Sie sitzt in den Köpfen all derer, denen das Gemeinwohl ihres Staates und ihrer Mitbürger völlig gleichgültig ist.
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