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WEB-Tagebuch Regina Berlinghof



November 2007

11.11.2007
Contergan, die Firma Grünenthal und die Familie Wirtz

Diese Woche sah ich den bewegenden Zweiteiler um Contergan und einige der zusätzlichen Dokumentationen und Gesprächsrunden. Ich erinnere mich noch dunkel an die Presse- und Fernsehberichte Ende der fünfziger/Anfang der sechziger Jahre, als ich zwölf bis vierzehn war. Das Mitgefühl galt und gilt den geschädigten Kindern und ihren Eltern. Die Empörung über die Firma Grünenthal und die Inhaberfamilie Wirtz war damals riesig und ist auch heute wieder entflammt. Zu Recht.
Das herzlose Verweigern jeglicher Entschuldigung, das Unterlassen von Mitleidsäußerungen, das Bestreiten jeder Schuld, die Vertuschungen und Verzögerungen bei der Rücknahme des Medikaments vom Markt, das Verweigern weiterer Zahlungen an die Geschädigten, deren Nachfolgeschäden erst im Lauf der Jahre sichtbar wurden, sind und bleiben ein Skandal. In ihrer Abstreitungssturheit erinnern Firma und Inhaber an die Praxis vieler Nazis vor Gericht: sie hatten nichts gewußt, nichts getan und waren nicht verantwortlich.

Erstaunlich die Aussage des damaligen Justitiars der Firma bei Sandra Maischberger: die Opfer hätten der Wissenschaft und dem Fortschritt geholfen. Nur: zum Opfern gehört, daß das Opfer bewußt gebracht wird. Hat die Firma vorher etwa die Eltern oder Kinder gefragt, ob sie zu diesem "Opfer" bereit waren, als die werdenen Mütter die Contergan-Tablette einnahmen?
Die Firma Grünenthal hat nicht wegen Wissenschaft und Fortschritt neue Tabletten entwickelt, sondern um Gewinn zu erzielen. Bis heute streicht sie die Gewinne für die "guten" Medikamente ein - und sozialisiert zu Lasten der Allgemeinheit und der Geschädigten die schädlichen Auswirkungen ihres Contergans.

Besonders schäbig ist, daß Firma und Familie in Millionen/Milliarden schwimmen, die Contergankinder aber mit maximal (oft weniger) € 545,00 auskommen müssen.
Es scheint, als hätten Anstand, Moral, Herz, Mitgefühl bei ihnen nie reifen und wachsen können - vergleichbar den nicht gewachsenen Armen und Beinen der Kinder.

Und selbst wenn bei Firmenverantwortlichen und der Familie keine juristisch vorwerfbare Schuld vorliegt, so zeugt ihr Handeln oder besser Nichthandeln von einer Schäbigkeit, Unverfrorenheit und Niedrigkeit des Denkens und Fühlens, die man in einer zivilisierten Gesellschaft kaum erträgt, und noch weniger öffentlich zur Schau gestellt sehen mag.

Als eine nach 1945 Geborene trage ich auch keine Schuld an den Nazigreueln. Und trotzdem stehe ich als Deutsche zu der Verantwortung gegenüber den Opfern und zu den Zahlungen, die das Unrecht und die Leiden sicherlich nicht lindern - aber den Opfern doch ein besseres Dasein ermöglichen. Wäre das vielleicht ein Denkansatz auch für die Firma Grünenthal und die Familie Wirtz?








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