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LESERBRIEFE AN DIE ZEIT

DIE ZEIT
Redaktion Leserbriefe

12. September 1999 

 Fliehen - Das sollten Sie unbedingt lesen (Alain de Botton) in Zeit Nr. 37 v. 9.9.1999

Sehr geehrte Damen und Herren,
ich zitiere den Schlußsatz und die Quintessenz des Artikels: „Der Preis für die Entdeckung, dass wir gar nicht so allein sind, ist die Einsicht, dass wir auch alles andere als einzigartig sind.“

Schade, daß Sie immer noch diesem intellektuell-abendländischen Ammenmärchen vom Entweder/Oder Raum geben, wie es in dem Artikel von Herrn de Botton stillschweigend und völlig unkritisch angewendet wird. Das allzu vereinfachende Prinzip des gegensätzlichen Ja/Nein, Entweder/Oder, Schwarz/Weiß, Himmel/Hölle, Einzigartig/Nicht allein läßt sich nach den Gesetzen der Logik immer wunderbar ausspinnen und beweist doch gar nichts. Nach diesem Prinzip macht das Vorhandensein von Licht die Tatsache von Dunkelheit unmöglich und umgekehrt.

Da Herr de Botton in dem Artikel auch Schopenhauer zitiert hat, lege ich ihm die Lektüre des ersten Bandes der „Welt als Wille und Vorstellung“ nahe, in dem Schopenhauer ausgiebig ein anderes Prinzip geistiger Strukturierung behandelt, nämlich das der Komplementarität (dargestellt und entwickelt an der Untersuchung unserer grundlegenden Wahrnehmungsfähigkeiten und Erkenntnismöglichkeiten: nämlich als Rückführung in die nicht mehr auflösbaren Grundkonstanten Raum, Zeit und Kausalität, wie sie Kant in der Kritik der reinen Vernunft herausgearbeitet hat.) 

So wie Raum und Zeit nicht als Gegensätze, sondern als gegenseitige/wechselseitige Ergänzung zu verstehen sind, so hat sich das Komplementaritätsprinzip weiterhin in der Physik und Naturwissenschaft als äußerst fruchtbar erwiesen. Schopenhauer konnte damit zum ersten Mal beweisen, daß das aufgespaltene Licht in komplementäre Farbenpaare gebündelt werden kann, die zusammen wieder das weiße Licht ergeben. Die positiven und negativen Pole des Magnetismus und der Elektrizität schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern gehören notwendig zusammen. Strom und Magnetismus gibt es nur mit dem Gefälle zwischen dem positiven und negativen Pol.

Niels Bohr hat in unserem Jahrhundert mit dem Komplementaritätsprinzip die nach dem Prinzip der Ausschließlichkeit unvereinbaren Gegensätze der Teilchen- und Welleneigenschaft des Lichtes in dem umfassenderen Prinzip der Komplementarität aufgehoben. Licht und Materie sind danach sowohl Welle als auch Teilchen. 

Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse dieses Jahrhunderts haben ferner gezeigt, daß unsere Erbanlagen höchst einzigartig für jedes Individuum in der DNA unserer Chromosomen niedergelegt sind. Gleichzeitig sind wir aber nicht einzig und allein, sondern gehören einer bestimmten Gattung an. Und so wie auch äußerlich jede Fingerlinie beweist, daß wir einzigartig und doch Gattungswesen Mensch sind, zeigt die Zeichnung jedes Zebras, daß es ein einzigartiges Individuum ist und dennoch ein Zebra. Jede Walfluke kennzeichnet ein ganz bestimmtes Tier und dieses gehört dennoch zur Gattung der Wale.

Genauso sind wir Menschen über eine mehr oder weniger große Übereinstimmung der Chromosomensätze mit den Tieren, mit den Pflanzen verbunden. Und über unseren Körper, über die chemischen Elemente mit der Materie und dem ganzen Kosmos - und dennoch bleiben wir Menschen und Individuen. Der Intellekt kann sich diese Zusammengehörigkeit in der Einzigartigkeit an Hand dieser Fakten ableiten. Die Intuition erkennt sie in seltenen, sehr glücklichen Momenten unmittelbar. Diese letztere, ganz individuelle und persönliche Art der Erkenntnis ist für den, der sie erfährt, so bestürzend, so neu, so farbig und so tiefgehend wie die konkrete Erfahrung der ersten Liebe - auch nach allen vorhergehenden Lektüren darüber, was denn Liebe sei. Das Individuelle, das Konkrete ist immer aufregend und neu, mag es auch für die Gattung und den abstrakten Geist ein altbekannter Vorgang sein. („Das klang so alt und war so neu“ singt Hans Sachs in Wagners Meistersingern).

Um weiter bei Schopenhauer zu bleiben: Schopenhauer hat immer davor gewarnt, abstrakte Prinzipien zu generalisieren und sie der konkreten Wirklichkeit überzustülpen, wozu der geistige Idealismus verführt. Daher auch Schopenhauers große Feindschaft gegen Hegel, der sich in den abstrakten Gedankengebäuden seines „Weltgeistes“ verlor. Schopenhauer argumentierte immer von der Verankerung jeder Wahrnehmung und jeden Gedankens in der konkreten Anschauung der Wirklichkeit. Und die ist immer reicher und vielfältiger als es die (notwendige) Vereinfachung in der Abstraktion weismachen will. Jede Landkarte, jeder Stadtplan erleichtert die Orientierung in der Landschaft oder im Straßennetz. Aber es wäre ziemlich dumm zu glauben, daß die abstrahierten Pläne besser die Wirklichkeit wiedergäben als der eigene Augenschein vor Ort. Sonst könnte man leicht über einen Stein stolpern, der in den Karten nicht verzeichnet war.

Das Denken der Logik nach dem Prinzip der Ausschließlichkeit gilt nur in den eng begrenzten Bereichen der Logik und der Mathematik selbst. In der drei- (oder mehrdimensionalen) Wirklichkeit bewahrt sie als kritische Skepsis vor allzu schädlicher Leichtgläubigkeit und Phantasterei. Doch muß ihr Gültigkeitsbereich immer wieder überprüft werden. Denn die physische Wirklichkeit liebt das Prinzip des Sowohl als Auch. 
 

Mit freundlichen Grüßen
Regina Berlinghof
 


 
 
 
 
 
 
 
 


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