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LESERBRIEFE AN DIE ZEIT
Verlag DIE ZEIT
Redaktion Feuilleton
18. Dezember 2000
Betrifft: Das Double Speak der Kardinäle - zum
Artikel Kardinal Ratzingers: "Europas Kultur und ihre Krise", in DIE ZEIT
Nr. 50 vom 7. Dezember 2000
Sehr geehrte Damen und Herren,
es ist fast rührend, einem Wolf zuzuhören, der Kreide gefressen
hat. Ebenso rührend, den dreiseitigen Artikel von Kardinal Ratzinger
zu Europas Kultur und Krise zu lesen. Noch dazu in der ZEIT. Dahei bin
ich doch schon Abonnentin der FAZ und halte DIE ZEIT vor allem zum Kontrast.
Ja, es ist rührend, folgende Sätze zur Grundrechtscharta der
Europäischen Union aus der Feder des Kardinals zu lesen: "Erkennbar
ist die Unbedingtheit, mit der Menschenwürde und Menschenrecht hier
als Werte dastehen, die jeder staatlichen Rechtssetzung vorangehen.[...]
Diese allem politischen Handeln vorangehende Gültigkeit der Menschenwürde
verweist letztlich auf den Schöpfer. Nur er kann Rechte setzen, die
im Wesen des Menschen gründen und für niemanden zur Disposition
stehen . Insofern ist hier christliches Erbe in seiner besonderen Art von
Gültigkeit kodifiziert. Daß es Werte gibt, die für niemanden
manipulierbar sind, ist die eigentliche Gewähr unserer Freiheit und
menschlicher Größe; der Glaube sieht darin das Geheimnis des
Schöpfers und der von ihm dem Menschen verliehenen Gottesebenbildlichkeit.
So schützt dieser Satz ein Wesenselement der christlichen Identität
Europas in einer auch dem Ungläubigen verstehbaren Formulierung."
Wenn man so Kardinal Ratzingers wortgewaltige Verteidigung der Menschenwürde
und Freiheit des Menschen liest, möchte man am liebsten vergessen,
daß das christliche Europa auch Inquisition, Hexenverbrennungen und
Verfolgung Andersgläubiger bedeutete. Lassen wir Kardinal Ratzinger
vornehm über diese intoleranten Ausrutscher jahrhundertelanger dogmatisch-christlicher
Herrschaft hinweggehen. Ebensowenig rügen wir in seiner Darstellung,
daß die Ideen der Aufklärung wundersam allein christlichem Gedankengut
entsprossen zu sein scheinen. Verlieren wir kein Wort dazu, daß die
Kirche die Aufklärer und ihre Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit
als gottlos bekämpfte. Beanstanden wir auch nicht, daß die Renaissance,
d.h. die Wiedergeburt selbständigen philosophischen Denkens aus dem
griechisch-römischen "Heidentum" in Kardinal Ratzingers Geschichtsrückblick
völlig ausgeblendet ist. Schauen wir großmütig darüber
hinweg, daß Menschen, die selbständig denken, der Kirche von
jeher suspekt waren. Breiten wir den Mantel des Schweigens darüber
aus, daß nicht nur "heidnische", "gottlose" Freidenker verfolgt und
verbrannt wurden. Denn selbst Christen, die ihre Freiheit in Gott fanden
und den Mut dazu, den von Gott verliehenen Verstand zu gebrauchen, wurden
verketzert. Übergehen wir den päpstlichen Bannspruch gegen Meister
Eckehart von 1329 in dem zu lesen ist: "tun Wir kund, daß in dieser
Zeit einer aus deutschen Landen, Eckehart mit Namen, und, wie es heißt,
Doktor und Professor der Heiligen Schrift, aus dem Orden der Predigerbrüder,
mehr wissen wollte als nötig war und nicht entsprechend der Besonnenheit
und nach der Richtschnur des Glaubens, weil er sein Ohr von der Wahrheit
abkehrte und sich Erdichtungen zuwandte."
Hüten wir uns davor, der katholischen Kirche die vor langen Zeiten
begangenen und vergangenen Verfehlungen ewig vorzuwerfen. Mit Kardinal
Ratzinger tritt die Kirche an die Seite der Streiter für Demokratie
und die Verteidigung der Menschenrechte. So ist es im ZEIT-Artikel Kardinal
Ratzingers ja nun nachzulesen. Und im Januar suchte er in einem anderen
Artikel in der FAZ die Versöhnung mit der Philosophie, indem er das
Christentum definierte als die Erkenntnis des Göttlichen, das die
vernünftige Analyse der Wirklichkeit wahrnehmen könne.
Soweit die schönen Worte des Kardinals. Wenden wir uns nun der
gültigen Konstitution und Praxis der Kirche selbst zu und prüfen,
wieweit sie die Demokratie, die Menschenwürde, die Freiheit und die
Rechte des Einzelnen achtet.
Die katholische Kirche ist und bleibt in ihrem Selbstverständnis
eine streng hierarchisch strukturierte Organisation. Von ihren Mitgliedern
verlangt sie unbedingten Gehorsam. Priester, Mönche und Nonnen legen
den Gehorsamseid ab. Nach dieser letzten freiwilligen Entscheidung sind
sie nicht mehr Herr ihrer Handlungen und ihres Denkens. Sie dürfen
ihren Körper nicht mehr lieben, nicht mehr den eines anderen Menschen.
Sie dürfen nicht ihren eigenen Kopf, ihren eigenen Willen und ihr
eigenes Denken lieben und üben. Es findet eine geistige Kastration
des Körpers und des Denkens statt. Über allem thront der Unfehlbarkeitsanspruch
des Papstes.
Diese Tage erreichte mich die eMail des Ex-Pfarrers Willi Glas, der
zwangpensioniert und exkommuniziert wurde, weil er nicht mehr blind den
römischen Dogmen folgen wollte:
Seit 1974 Pfarrer von Arget, bei Sauerlach, im Landkreis München.
Nach Erscheinen seines Buches "Der Pfarrer von Arget Höhen und Tiefen
in seinem Leben" wurde er am l. Mai 1992 von Kardinal Friedrich Wetter
zwangspensioniert. Zum größten Ärger des Kardinals
versah der Verfasser mit voller Unterstützung der Kirchenverwaltung
und des Pfarrgemeinderates weiterhin seine Aufgaben als Pfarrer.
Schließlich startete das Erzbischöfliche Ordinariat eine
Blitzaktion. Jedem einzelnen Mitglied der Kirchenverwaltung wurde mit dem
Hinweis Angst gemacht, daß der Pfarrer mit dem Kirchenvermögen
jederzeit verschwinden könnte, und daß dann jedes Mitglied
der Kirchenverwaltung mit seinem eigenen Vermögen, also mit Haus und
Hof, zur Verantwortung gezogen werden müßte. Damit hatte
das Erzb. Ordinariat schließlich Erfolg. Kurz vor Weihnachten 1992
kam es dann zur Zwangsräumung des Pfarrhauses. Der Verfasser lebt
seither in Sauerlach.
Ich zitiere aus der eMail mit dem Einverständnis von Herrn Glas.
Mehr braucht man zur Theorie und Praxis der Freiheit des Christenmenschen
und der Menschenwürde in der Praxis der katholischen Kirche nicht
hinzuzufügen.
"Erweiterte "Professio fidei" von 1989
Diese römische Verordung verstößt gegen das Grundgesetz.
Dort heißt es: "Die Würde des Menschen ist unantastbar, Sie
zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt"
(Grundgesetz, Artikel 1). Die deutschen Bischöfe haben diese römische
Verordnung jetzt auch in ihren Diözesen zum geltenden Recht erklärt
und sich damit schuldig gemacht. Aus
diesem Grund ist gegen jeden einzelnen Bischof Klage zu erheben, oder
beim obersten Verwaltungs- und Sozialgericht eine alle Bischöfe betreffende
Sammelklage einzureichen. Ich habe mich vor einigen Tagen mit einer sehr
persönlichen Klageschrift an das Verwaltungsgericht in München
gewandt und
bin gespannt, ob diese Klage tatsächlich angenommen wird. Zu Ihrer
Information:
Klage:
gegen:
Kardinal Friedrich Wetter, Erzbischof von München und
Freising, Kardinal-Faulhaber-Str. 7, 80333 München
wegen:
Verletzung der Menschenrechte an den Untergebenen
und Mißachtung der Fürsorgepflicht an seinen
Mitarbeitern
Kardinal Friedrich Wetter, Erzbischof von München und Freising,
verletzt die unantastbare Würde des Menschen. Er erzwingt von seinen
Mitarbeitern die totale Unterwerfung im Denken mit dem Druckmittel sofortiger
Suspendierung vom Amt und mit der Kündigung des Arbeitsverhältnisses.
Vorbemerkung:
Ich bin in einer streng katholischen Umgebung aufgewachsen und habe
von klein auf gelernt, die katholische Kirche als die einzig wahre Religion
zu halten. Jeder vernünftige Zweifel daran mußte deshalb als
schwere Sünde gebeichtet werden. So litt ich an einem unerträglichen
Zustand, der mich zuerst seelisch
und später auch körperlich krank machte. Das ging so über
viele Jahre. Schließlich half mir der wissenschaftliche Vergleich
der drei biblischen Religionen der Juden, Christen und Muslime. Dieser
Religionsvergleich verhalf mir zu der Erkenntnis, daß alle drei "göttlichen
Offenbarungen" nur von Menschen stammen können, weil sich ein
persönlicher Gott zu keiner Zeit auf
übernatürliche Weise den Menschen offenbart hat. Auf theologischen
Fortbildungsveranstaltungen erfuhr ich dann, daß es vielen Priestern
ebenso geht wie mir.
Beweis:
Dr.Walter Friedberger hat als der verantwortliche Leiter dieser Kurse
für Kardinal Friedrich Wetter einen entsprechenden Bericht verfaßt,
in dem es heißt:"Fast alle drückt der Schuh". "Fast alle haben
sich wundgerieben an der Kirche". "So richtig gebeutelt hat die Priester
die Drewermann-Diskussion". Er berichtet weiter über "die Erkrankung
eines ganzen Berufstandes und einer ganzen Leitungsschicht der Kirche durch
Übermüdung, Resignation, Defätismus und Zukunftsarmut."
Er stellt weiter fest: "Das Amt deprimiert die Ausübenden, weil sie
nicht genügend sicher sind, wie weit die Sache stimmt, die sie vertreten.
Sie müssen ständig von Absolutheiten sprechen, deren wissenschaftliche
Garantierung nicht mehr funktioniert." "Die Priester erleben sich
als fragwürdige Agenten einer früheren Kultur in einer modernen
Welt." "Wenn ich als Priester etwas ausstrahle, dann ist es das Kreuz mit
Gott und dem Beruf." "Viele sind somatisch und psychisch angeschlagen,
ein Teil lebt den Zölibat, ein Teil lebt daran vorbei, manche haben
Leichen im
Keller. "Ein Teil trinkt zuviel und verliert den Führerschein."
"Viele
scheren sich nicht um großkirchliche Ärgerlichkeiten." "Ein
Teil ruht sich auf der Erst-Dogmatik aus, einige sind fundamentalistisch,
engstirnig, aggressiv, die einen schätzen die kirchliche Autorität,
die andern pfeifen darauf, einige denken an das Aufgeben und das Aussteigen,
aber so einfach ist
das für einen gelernten Theologen nicht." (Zitate aus dem Jahresbericht
1990/91, Institut für theologische Fortbildung Freising .) Hiermit
ist die Verletzung der Fürsorgepflicht des Kardinals gegenüber
seinen untergebenen Mitarbeitern bewiesen.
In dieser unerträglichen Lage ging ich mit dem Buch "Der Pfarrer
von Arget - Höhen und Tiefen in seinem Leben" an die Öffentlichkeit.
Für Kardinal Friedrich Wetter war dieses Vorgehen im höchsten
Maße kriminell. Er antwortete mit "Suspendierung vom Dienst" und
mit der "von selbst
eintretenden Strafe der Exkommunikation".
Beweis:
Dekret des Erzbischofs von München und Freising vom 21. 09. 1992:
In Ihrem Buch "Der Pfarrer von Arget" stellen Sie wesentliche
Glaubenswahrheiten nicht nur in Frage, sondern leugnen einige
ausdrücklich, wie z.B. die Gottessohnschaft Jesu Christi ("In
mir wuchs die Überzeugung, daß Jesus ein ganz normaler Mensch
war und nicht Sohn Gottes, wie es die Dogmatik lehrt. Selbstverständlch
wurde auch er nicht durch die
Überschattung des Heiligen Geistes gezeugt, sondern ganz
normal wie jeder andere Mensch." S.344), die Verbindlichkeit der Evangelien
als geoffenbartes Wort Gottes ("Die Evangelien sind keine Berichte, sondern
Dichtungen" S. 285; "Um ihren eigenen Einfluß in der Welt zu stärken,
hat die Kirche ihrem Handbuch, der Heiligen Schrift, eine göttliche
Autorität verliehen. Gegen
besseres Wissen behauptet sie felsenfest, es handle sich dabei um nichts
geringeres als um das Wort des lebendigen Gottes." S. 491) und die Sakramentalität
des Weihepriestertums (" Selbstverständlich dachte ich auch
über das Priestertum nach. Letzten Endes kam ich zum Schluß,
daß die Weihe im
Tun liegt und nicht in der Handauflegung durch den Bischof. Wer das
Priestertum ausübt mit Herz und Verstand, der ist geweiht." S. 287).
Durch die Leugnung dieser Glaubenswahrheiten haben Sie sich die von
selbst eintretende Strafe der Exkommunikation nach c. 1364 §
1 CIC mit den in c. 1331 CIC genannten Folgen zugezogen. Die Ausübung
des priesterlichen Dienstes
ist ihnen folglich untersagt. In der Zwischenzeit hat Kardinal Wetter
das Grundrecht auf Freiheit im Denken bei seinen untergebenen Mitarbeitern
vollkommen aufgehoben: Um vor ihm bestehen zu können, müssen
sich alle künftigen Mitarbeiter jetzt sogar noch zusätzlich
folgenden drei Artikel unterwerfen:
Erster Artikel: "Fest glaube ich auch alles,
was im geschriebenen oder überlieferten Wort Gottes enthalten ist
und von der Kirche als von Gott geoffenbart zu glauben vorgelegt
wird, sei es durch feierliches Urteil, sei es durch das ordentliche und
allgemeine Lehramt."
Zweiter Artikel: "Mit Festigkeit erkenne ich
auch an und halte an allem und jedem fest, was bezüglich der Lehre
des Glaubens und der Sitten von der Kirche endgültig vorgelegt
wird."
Dritter Artikel: "Außerdem hange ich
mit religiösem Gehorsam des Willens und des Verstandes den Lehren
an, die der Papst oder das Bischofskollegium vorlegen, wenn sie ihr authentisches
Lehramt ausüben, auch wenn sie nicht beabsichtigen, diese in einem
endgültigen Akt zu verkünden." Erläuternd heißt es
dazu, daß dieser religiöse Gehorsam des Willens und des
Verstandes vor allem gegenüber dem Papst so zu leisten ist,
"daß sein oberstes Lehramt ehrfürchtig anerkannt und den von
ihm vorgetragenen Urteilen aufrichtige Anhänglichkeit gezollt
wird."
Für diese Artikel fehlt jede vernünftige Begründung.
Sie sind ein Schlag gegen die unverletzlichen Menschenrechte.
Antrag:
Der Bayerische Landessozial- bzw. Verwaltungsgericht möge beschließen:
Die drei Artikel verletzen die Würde des Menschen. Sie sind null
und nichtig und müssen widerrufen werden. Ebenso die in seinem Dekret
verhängten Sanktionen."
Ob Sie dieser Darstellung ebenso viel Raum geben wie Kardinal Ratzinger?
Mit freundlichen Grüßen,
Regina Berlinghof
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