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LESERBRIEF AN DIE FAZ, nicht abgedruckt
16. Juni 2005
„Orientexpreß - Der Streit um die Frankfurter Judaistik“
Jürgen Kaubes Feuilleton-Glosse von heute
Sehr geehrte Damen und Herren,
offensichtlich spielt es für die Stadt Frankfurt und eine
Frankfurter Zeitung namens Frankfurter Allgemeine Zeitung keine Rolle
mehr, wenn Universitätsinstitute ihrer Stadt geschlossen
werden.
Fächer wie Judaistik, Orientalistik und Turkologie
können also schmerzlos an Marburg abgegeben werden. Wozu
sollte man auch in einer Stadt, die auf ihre Internationalität
so stolz ist, noch Hebräisch, Arabisch, Persisch oder
Türkisch lernen? Was gehen uns Länder wie der Iran,
die arabischen Staaten und die Türkei heute noch an? Wir
interessieren uns weder für ihre Ölfelder oder ihre
politische Machtstellung im Nahen Osten, noch für ihre
Hochkulturen – dafür haben wir ja ihre Gastarbeiter.
Was geht uns in Frankfurt mittelalterliches Hebräisch und
Jiddisch an? Soll sich doch die jüdische Gemeinde um sich
selbst kümmern. Es interessiert uns auch nicht, was die
Menschen des Nahen Ostens heute bewegt. Wir brauchen keine Leute mit
Orientsprachkenntnissen. Wir lesen nicht deren Zeitungen,
Internetseiten, schauen uns auch nicht deren Satellitenfernsehen an.
Frankfurt braucht auch nicht zu wissen, was sich in ihrer Stadt
möglicherweise an radikalen nahöstlichen
Vereinigungen zusammenbraut. Wenn solche Leute wie Usama bin Ladin
wieder ein Hochhaus abschießen, werden wir schon erfahren,
was diese Typen wollen.
Es müssen ja höchstens sechzig Hauptfachstudenten
nach Marburg umziehen – gerade mal eine Stunde mit der Bahn
oder dem Auto entfernt. Als wenn es sonst keine Nutzer aus der Stadt
oder der Region gäbe, die von den Institutsbibliotheken und
den Fachkenntnissen der Lehrkräften profitierten. Aber da sie
nicht in den Statistiken auftauchen, existieren sie für die
Kulturpolitiker und Herrn Kaube nicht. Wir lassen also
ungerührt den Braindrain aus unserer Stadt und aus der
Rhein-Main Region zu. Hat Frankfurt denn schon die Verarmung durch den
Zwangsexodus jüdischer Frankfurter Bürger geistig und
kulturell verkraftet?
Es ist durchaus sinnvoll die Orientalistikfächer der Marburger
und Gießener Universität zusammenzulegen. Allerdings
hat man in den letzten Jahren Gießen schon so kleingemacht,
daß man offensichtlich Frankfurt beiziehen muß, um
ein lebensfähiges Institut in Mittelhessen aufrechtzuerhalten.
An die politischen Köpfe im Stadtparlament und im Hessischen
Landtag und der Hessischen Landesregierung: endlich weniger
Förderung von Eventkultur, dafür eine bessere
Ausstattung für fundierte Studien und Bibliotheken in
Mittelhessen und in Frankfurt. Das wäre der Weg für
ein Kulturland und eine internationale Wirtschafts- und Kulturstadt.
Schon mal was von Humboldt gehört?
Nachtrag vom 26.6.05 (nicht an die FAZ):
Der Tenor in den Nachrichtenblättern (Rundschau und
Leserbriefe in der FAZ) beschränkt sich vor allem auf die
Schließung der Judaistik in Frankfurt, und
läßt die „orientalischen
Fächer“ ohne Kommentar ziehen. Es ist wirklich
merkwürdig und erstaunlich, daß der Orient und seine
Kulturen hierzulande so wenig interessieren. Trotz oder wegen den
Märchen aus 1001 Nacht? Schon Goethe mußte die
Erfahrung machen, daß seinem Brückenschlag in den
Orient wenig Resonanz beschieden war. Von der Erstauflage des
Westöstlichen Divan gab es um 1900 noch immer unverkaufte
Exemplare beim Verlag!
Trotz des modernen Tourismus scheint es bei innerer Distanz zur Kultur geblieben zu sein.
Schade auch, daß die Stimmen, die sich gegen die
Schließung des Judaistikinstituts richten, eher die eigenen
Wurzeln im Orient für vernachlässigbar halten und
allein auf die eigenständige deutsche Entwicklung im
Mittelalter setzen.
Dabei wurden die Bibel, die mündliche Lehre (Halacha), die
Mischna und der Talmud im Orient entwickelt und zu Papier gebracht.
Alle Studien des Judentums stützen sich auf diese Werke. Der
babylonische Talmud wurde im sechsten Jahrhundert in den
Lehrstätten Babyloniens verfaßt, die
endgültige Fassung wurde vermutlich um 700 abgeschlossen
(Wikipedia), der Jerusalemer Talmud wurde wahrscheinlich in Tiberias in
der Mitte des sechsten Jahrhunderts abgeschlossen.
Alle mittelalterlichen Kommentatoren wie Maimonides oder Raschi
kommentieren den Talmud und argumentieren nicht im luftleeren Raum.
Ohne den Talmud mit seinen Bestandteilen der Mischna und Gemara, ohne
die Zusatzschriften wie Tosefta und Tosafot, wäre ihre Arbeit
nicht denkbar. Genausowenig wie man ohne die Bibel, Aristoteles, die
Platoniker und die (orientalischen!) Kirchenväter die
mittelalterlichen Theologen Albertus Magnus, Abaelard oder Nicolaus von
Cues nicht verstehen kann.
Mit freundlichen Grüßen,
Regina
Berlinghof
siehe auch der Leserbrief an die Frankfurter Neue Presse vom 10. Juni 2005, gekürzt abgedruckt am 11. Juni 2005
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