Regina Berlinghof:

Die Kette

Die Geschichte einer Zeitreise


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Die Kette

Seine Augen schmerzten noch, als er wieder zur Besinnung kam. Wie mit Rasierklingen schnitt die Helligkeit durch die Augenlider. Er verbarg das Gesicht in seinen Armen und wartete im Schutz der Dunkelheit auf das Abklingen der unerträglichen Schmerzen.

"Wir haben Sammy und Iris heil wieder zurückbekommen. Wir können also davon ausgehen, daß ein Mensch den Sprung ebenso gut verkraften kann. Was aber im einzelnen geschieht, wissen wir natürlich nicht. Dafür bist du der erste, der uns davon berichten kann!"

Daves aufmunternde Worte schwirrten ihm durch den Kopf, während er sich krampfhaft von allen Vorstellungen abzuschirmen versuchte, die ihm drohend attestierten, daß er blind geworden war.

"Das Idiotische ist, daß wir keinerlei Informationen über die physiologischen Vorgänge während der eigentlichen Transformation bekommen," fuhr Daves Stimme in seinem Innern fort. "Wenn du einmal den C-Wert bei der Beschleunigung überschritten hast, bist du von uns abgeschnitten. Ein gewisses Risiko bleibt also. - Aber das war dir ja von vornherein klar!"

Natürlich war ihm das klar gewesen. Das war ja gerade der ganze Reiz bei der Sache! Was gab es langweiligeres, als bei jedem Schritt zu wissen, wie der nächste aussehen würde! Das Neue, das Unbekannte lockte ihn - der Kitzel der Angst, von etwas überrascht zu werden, das er bisher nicht gesehen, geahnt und nicht gedacht hatte - und auch kein anderer Mensch vor ihm! Das war der Grund gewesen, weshalb er Atomphysik studiert hatte - weshalb er in die Chemie hineingeschnuppert hatte - weshalb es für ihn die größte Freude und Genugtuung war, an dem größten wissenschaftlichen Projekt seiner Epoche beteiligt zu werden: der Überwindung der Raum-Zeit-Schranken. Die besten Wissenschaftler aller Länder hatte man zusammengezogen: Physiker, Chemiker und Psychologen. Man hatte nicht einmal den Kontakt zu Künstlern und den anrüchigen Parapsychologen gescheut. Auf Ackerboden - fernab jeder größerer Siedlung - war ein Wissenschaftszentrum errichtet worden, ausgestattet mit Computern und Meßgeräten vom Allerfeinsten und Besten, das die gegenwärtige Technik und die fördernde Wirtschaft bieten konnten. Den Wissenschaftlern stellte man kleine bequeme Bungalows zur Verfügung - und der Ackerboden hatte sich in eine blühende grüne Parklandschaft verwandelt. Man arbeitete zusammen, man besuchte sich - man redete sich die Köpfe heiß, änderte die Computerprogramme und entwarf neue. Irgendwann - sie hatten kaum daran zu glauben gewagt, obwohl es schließlich das Ziel all ihrer Anstrengungen war - hatten sie den Durchbruch geschafft: sie konnten die Raum-Zeit-Pole beliebig vertauschen.

Und er war es gewesen, der ausgesucht worden war. Er durfte als erster Mensch den Schritt über die Grenze wagen. Gegen alle Widerstände und Intrigen hatte sich die Fraktion der Physiker durchgesetzt. Sie hatten es geschafft, die alles entscheidenden Geldgeber - Regierungen, Politiker, Stiftungen, Wirtschaftsbosse - davon zu überzeugen, daß man mit einem Physiker wichtige technische Informationen aus der fortgeschritteneren Zukunft zurückbringen könnte, die das Zeitsprungverfahren und andere Projekte vereinfachen und vor allem verbilligen würden. Außerdem war Losey, der Vorsitzende des Auswahlkomitees, glücklicherweise auf der Seite der Naturwissenschaftler. Er hatte sich vor allem Einblick in die wissenschaftlichen Forschungen und Erkenntnisse der Zukunft erhofft - einer der letzten wahren Idealisten der Wissenschaftszunft. Es blieb den Biologen, Chemikern, Ethnologen, den Zukunftsforschern, den Psychologen und erst recht den Historikern nichts anderes übrig, als zähneknirschend ihre Kandidaten zurückzustellen und um einen günstigen Platz in der Warteschlange zu kämpfen. Was waren schon ihre Erkenntnisse gegen die handfesten materiellen Vorteile, die ein Physiker heimbringen konnte! Da er der jüngste und sportlichste unter den Physikern war, war dann die Entscheidung ohne große Diskussionen zu seinen Gunsten gefallen.

Nun saß er schwitzend da, wartete auf das Verschwinden der stechenden Schmerzen und versuchte die aufsteigende Angst abzublocken.

Die Affen sind ja auch nicht blind zurückgekommen, sprach er sich Mut zu, um gleich darauf von einem neuen Gedanken überfallen zu werden: hatte man denn die Sehfähigkeit der beiden Affen überprüft, als sie wieder im 21. Jahrhundert gelandet waren? Wie stellte man bei Tieren Blindheit fest? Die können sich doch selbst blind ganz unauffällig in ihrem Käfig bewegen - nur mit Hilfe ihres Gehör- und Geruchssinns! Was gab es in einem Käfig schon viel zu sehen...

Daves Stimme dozierende Stimme drang durch seine Angst:

"Du weißt - wir haben den Durchbruch geschafft. Aber was die Feineinstellung der Koordinaten betrifft, wußte Columbus wahrscheinlich mehr über die Position Amerikas bevor er losfuhr, als wir über deinen exakten Raumzeit-Landepunkt. Alles was wir tun können, ist, dich in die Zukunft zu katapultieren und dafür zu sorgen, daß du nicht in einem Ozean landest - alles andere werden wir erst durch dich erfahren. Solange du in der Zukunft bist, gibt es keine Verbindung. Wir wissen nur, daß ein lebender Organismus den Zeitbruch übersteht. Sammy und Iris konnten uns schließlich nicht erzählen, was sie gesehen und erlebt haben - jedenfalls noch nicht. Wir wissen also nicht, an welchem Ort und und zu welcher Zeit du genau landen wirst..."

Richard fluchte leise vor sich hin, während Daves Worte aus der Vergangenheit in einem endlosen Schwall vor seinem inneren Ohr vorüberzogen. Schließlich wagte er es, blinzelnd seine Augen zu öffnen. Da sah er SIE.



Die Fortsetzung der "Kette" finden Sie im Geschichtenband:
Wüste, Liebe und Computer
Paperback, 245 Seiten,
EUR 12,90
YinYang Media Verlag
ISBN: 3-9806799-0-X
Und hier können Sie das Buch bestellen:

 

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