Vojko TrutzkijJedesmal, wenn Vojko Trutzkij mit einer neuen Arbeit begann, mußte ein Satz frischer Bleistifte auf dem Schreibtisch liegen. Außer der Tischlampe, den jungfräulichen Bleistiften und dem Stoß weißer Blätter hatte der Schreibtisch leer zu sein - so leer wie die weiße Wand, vor die er gestellt war. Vojko Trutzkij rückte den Stuhl zurecht, richtete sich auf und ergriff einen der falbfarbenen, langen schmalen Holzstifte. Er liebte die rauhe Oberfläche der gebeizten Stifte. Sie blieben kühl und glatt in der Hand. Die Handfläche geriet nichts ins Schwitzen wie bei den lackierten oder den mit einer Folie überzogenen Billigexemplaren. Matt und schlicht in ihrem natürlichen Farbton lagen die Stifte vor ihm. Keine grelle Farbe, kein dummer Werbespruch wagten sich dreist in seine Aufmerksamkeit zu drängen. Seine Konzentration durfte sich ganz und ungeteilt in den neuen Kunstreiseband ergießen, der diesmal der Landschaft Kretas und den kretischen Kunstschätzen gewidmet war. Zwei Jahre hatte er in die Vorbereitungen zu dieser Arbeit gesteckt. Er hatte Kreta durchreist und durchwandert, Homer, Strabo, alte und neue Reiseführer im Handgepäck. Gründlich und penibel wie er war (pedantisch nannten ihn einige wenige böswillige Kritiker), hatte er den in Jahrhunderten gewachsenen Wald an Kunst- und Reisebeschreibungen durchforstet, hatte selbst jeden noch so unbedeutenden heidnischen Tempel, jedes christliche Kapellchen aufgesucht und hatte sich gründlichst mit den neuesten archäologischen Erkenntnissen vertraut gemacht. Er, der sich allein wegen der griechischen Klassik mit Kreta beschäftigt hatte, hatte sich unversehens und fast gegen seinen Willen in die minoische Kultur verliebt. Ihre heiteren Zeugnisse graziler Jünglinge, edler, schlank und biegsam gewachsener Damen mit ihren freimütig entblößten Brüsten, hatten ihn bekehrt. Was anfangs nur Vorgeschichte für eine weit ausladende Schilderung der klassisch-griechischen Epoche Kretas und ihrer baulichen Relikte werden sollte, beanspruchte und verdiente eine eigenständige Würdigung. Gestern hatte er seinem Verleger Ulf Redeker die Zusage abgerungen, aus dem geplanten Kretaband zwei Bände zu machen. Und Redeker, der schließlich am besten wußte, wie gut sich die Kunstreisebände Vojko Trutzkijs verkauften, hatte seufzend nachgegeben. Für ihn und seinen Verlag war Vojko Trutzkij ein Glücksfall. Wegen seiner Gründlichkeit und Detailgenauigkeit, die doch nicht den großen Überblick vermissen ließ, erntete er von allen Kritikern höchstes Lob, und da er sich in einer eleganten, leicht dahinfließenden, lebhaften und anschaulichen Sprache ausdrückte, fanden seine Bücher ein breites Publikum. Kurz, sie verkauften sich so reißend schnell, so langsam Vojko Trutzkij seine Bücher schrieb. Plan und Ausführung seines Werkes lagen klar und deutlich umrissen vor seinen Augen. Am Vorabend hatte er noch einmal die Karteizettel für den heutigen ersten Abschnitt studiert. Der Zettelkasten stand griffbereit neben seinem Schreibtisch. Aber wie in den meisten Fällen würde er ihn beim Schreiben nicht benötigen. Er senkte den Bleistift zum Papier und hub an zu schreiben. Die Worte flossen ruhig und einem gleichmäßigen Strom zu Papier. Nach drei Stunden machte er die erste Pause. Er war zufrieden. Er ging zum Markt, um frische Lebensmittel für das Mittag- und Abendessen zu kaufen. In knapp zwei Stunden würde seine Frau von der Arbeit nach Hause kommen. Sie arbeitete nur halbtags. Später am Nachmittag würde sie seine vollgeschriebenen Blätter in die Schreibmaschine tippen. Herta und er hatten zu einem festen Tagesrhythmus gefunden. Vormittags schrieb er und kochte und machte den Abwasch. Sie tippte seine Arbeiten ab und kümmerte sich um den restlichen Haushalt. Sie hatten keine Kinder. Herta hatte zu Beginn der Ehe ein paarmal davon angefangen. Aber Vojkos abweisend beredtes Schweigen hatte sie verstummen lassen. Er konnte sich nicht vorstellen, ein schreiendes, windelnässendes und breispuckendes Wesen um sich zu haben, das später von ihm erwartete, daß er mit ihm spielte und seine quengelnden Fragen beantwortete. Ein Kind bedeutete das Ende von Ruhe und Gleichmaß - und Ruhe und Gleichmaß brauchte er für seine Arbeit. Und wovon sollten sie schließlich sonst leben! Etwa von dem mäßigen Halbtagsgehalt, das seine Frau nach Hause brachte? Und wie sollte er reisen mit einem Kind an der Hand? Während er die Karotten und Broccoli aussuchte, die er mit Schinken und Kartoffeln in einen Auflauf geben wollte, fiel ihm plötzlich wieder Kaspar Müller-Soden ein, der ihm nach dem Gespräch mit Redeker im Verlag über den Weg gelaufen war. Die beiden kannten sich nur flüchtig, und er war erstaunt gewesen, mit welcher Verve und Herzlichkeit sich Müller-Soden auf ihn gestürzt und wie seinen besten Freund begrüßt hatte. Müller-Soden hatte ihn mit seiner Freundschaftlichkeit und massiven Neunzigkilogegenwart derart bedrängt, daß er sich sogar in das kleine Bistro hatte bugsieren lassen, das ein paar Häuser weiter vom Verlag lag. Der Ärger, mit dem er nach dem Gespräch (Gespräch! Ha!) mit Müller-Soden nach Hause gegangen war, flammte erneut auf. Wie hatte er sich nur so völlig benebeln und überrumpeln lassen! Es kränkte seine Selbstachtung. "Dem Missionarseifer eines gerade erweckten Konvertiten zum Opfer gefallen," ätzte es in seinem Innern nach. "Gerade diese übertriebene Herzlichkeit hätte mich stutzig machen sollen! Einen Proselyten wollte er gewinnen! Diese übertriebene Begeisterung, als er mich sah! Alle meine Alarmglocken hätten losschlagen sollen! Aber nein! Ich habe mich übertölpeln lassen und bin ihm wie ein Schaf zur Schlachtbank gefolgt! Meine kostbare Zeit und Kraft an diesen Banausen verschwendet!" Kaum hatte Müller-Soden ihn im Bistro fest zwischen Wand und Tisch eingekeilt, war er mit seinem neuen Gott und seiner Mission herausgerückt. Er hatte sich einen Computer gekauft und schrieb nun seine Manuskripte nicht mehr mit der Schreibmaschine, sondern mit Hilfe eines Textverarbeitungsprogramms. "Textverarbeitung," wütete Vojko Trutzkij, als er sich zwei dicke Scheiben von dem saftigen Kochschinken schneiden ließ, "sind wir denn zu Metzgern geworden, daß wir unsere Texte wie mit einer Wurstmaschine verarbeiten müssen?" Müller-Soden war in seinem Begeisterungsschwall nicht zu bremsen gewesen, und es war ihm nichts übrig geblieben, als sich in sein Schicksal zu fügen und die Müller-Sodenschen Computer-Elogen über sich ergehen zu lassen. "Weißt du, wie ich mir vorkomme?" - Trutzkij hatte es in seiner Erschöpfung sogar geschehen lassen, daß auf einmal das vertrauliche Du zwischen ihnen schwang. - "Wie ein Steinzeitmensch, der gelernt hat, wie man Metall verflüssigen und in eine Form gießen kann. Und paßt die Form nicht, wird das Metall wieder flüssig gemacht und in eine neue Form gegossen! Schluß mit dem mühsamen einzelnen Zuhauen und Bearbeiten der Geräte und Waffen! Und Schluß mit Schreibmaschine, Tippex, Schere und Uhu! Dafür gibt es jetzt den Computer! Ein neuer Triumph des Geistes über die träge Materie! Eine Entstofflichung des Schreibens! Nur noch der Geist, das gedachte Wort, der gedachte Satz zählen - wenn die äußere Form daneben geht, wird sie einfach neu gegossen! Man muß nicht mehr ganz von vorne anfangen!" schwärmte er. "Wenn ich dran denke, daß ich mit der Schreibmaschine immer wieder die ganze Seite neu tippen mußte, nur um einen Absatz zu ändern oder zu ergänzen! Aber mit dem Computer kannst du jeden Tippfehler sofort ausmerzen. Ein mißlungener Satz - und du schreibst ihn einfach neu! Ein Fehler im Aufbau - und du verschiebst deine Absätze an die richtige Stelle! Und danach machst du einen neuen Ausdruck, und das Blatt sieht so makellos aus wie am ersten Tage der Schöpfung! Nicht einmal die entsetzlichen Fußnoten können mich noch schrecken! Denn nicht ich, der Computer errechnet für mich, wieviel Platz sie brauchen und wo sie hingehören! Und wenn du später aus deiner Arbeit einen Vortrag machen willst, brauchst du nicht mehr alles neu zu schreiben - du holst dir den abgespeicherten Aufsatz und streichst ihn zusammen, wie du ihn brauchst! Du kannst ändern und verbessern wie du willst - und hinterher läßt du wieder den Drucker für dich arbeiten, anstatt dir die Finger wundzuschreiben!" Begriffe wie Kopieren, Verschieben, Block markieren, Style, Fonts, Drucker, Druckvorschau, Disketten, Festplatte, DOS waren wie bösartige Wespen um seinen Kopf geschwirrt - "Zwei Mark vierzig! Ich bekomme noch eine Mark, bitte der Herr!" Die Marktfrau riß ihn aus seinen Gedanken. Hastig öffnete er wieder das Portemonnaie und reichte ihr das Markstück mit einer Entschuldigung. "Schon gut, das kann jedem passieren!" Ihr nachsichtiges Lächeln demütigte ihn und verstärkte seine Wut auf Müller-Soden und auf die Wunderwerke der modernen Technik, denen dieser so blind wie die gedankenlose breite Masse verfallen war. "Ich kann mir nicht vorstellen, je auf einem so seelenlosen Instrument wirklich schreiben zu können!" hatte er seine Ablehnung vorsichtig und nicht ohne eine versteckte Spitze gegen Müller-Soden, von dessen Schreibkünsten er nicht viel hielt, zum Ausdruck gebracht. Müller-Soden war über Einwand und Spitze hinweggaloppiert, ohne diese zu bemerken. "Und endlich baut kein Setzer mehr seine eigenen Fehler in den Text! Ich gebe ihnen alles auf Diskette, und sie brauchen nur noch den Satz zu gestalten! Die Korrekturen der Druckfahnen stehlen mir nur noch ein Drittel der Zeit von früher!" Der ganze Unterschied zwischen Müller-Soden und ihm ballte sich in dem Wort "Texte" zusammen. Mochte Müller-Soden Texte schreiben, er, Vojko Trutzkij, schrieb Prosa, schwungvolle, geschliffene Prosa, die zu lesen ein ästhetischer Genuß war. Sicher, er ärgerte sich auch über die unnötigen Druckfehler der Setzer. Aber sich deswegen vor ein glotzendes Monstrum zu setzen, in die Tasten zu hauen wie ein Sportreporter und nur noch "Texte zu produzieren"? Es wäre einer Entweihung der deutschen Sprache, seiner Seele und seiner Arbeit gleichgekommen. Genausogut hätte er sich als Ghostwriter an einen Fünfhundertwort-Politiker verkaufen oder einen billigen Liebes- und Sexroman basteln können, um auf die Bestsellerlisten zu kommen und Hardcash zu kassieren. "Hardcash - Hardware." Seine Lippen kräuselten sich. Die Verwandtschaft der Worte besagte alles. Irgendwann mußte es selbst Müller-Soden aufgedämmert sein, daß sein Gegenüber sich nur mäßig für das neueste Produkt der High-Tech-Welt erwärmte. So schnell gab ein frisch Bekehrter jedoch nicht auf. "Aber es macht beim Schreiben doch gar keinen Unterschied, ob ich in eine Schreibmaschine oder in einen Computer tippe! Nur daß mir der Computer das Ändern und Korrigieren unendlich erleichtert! "Ich bevorzuge meine Bleistifte," hatte Vojko beharrt und seine kleinen schmalfingrigen Hände gemustert. Die sorgsam polierten Fingernägel glänzten rosig. Müller-Soden hatte ihn angestarrt wie ein zum Leben wiedererwachter kambrischer Trilobit. "Nicht mit der Maschine?" stammelte er. "Aber warum denn nicht? Wir leben doch auch nicht ohne Auto, Fernseher, Telefon oder eine Waschmaschine oder Mikrowelle!" "Ich gebe zu, daß eine Waschmaschine ein nützliches Gerät ist. Es nimmt einem schwere körperliche Arbeit ab. Aber ich weigere mich, der Technik einen Platz in meinem Leben einzuräumen, der ihr nicht zukommt. Allein schon das Telefon ist ein lästiges, wenn auch praktisches Übel, dem ich mich notgedrungen beuge. Ich akzeptiere auch ein Radio, um mich über das politische Geschehen soweit wie nötig informiert zu halten. Aber ich weigere mich, mich einem Auto, einem Fernseher oder gar einer Mikrowelle auszuliefern. Und für einen Computer sehe ich schon gar keine Veranlassung." Damit war ihr Gespräch beendet. Müller-Soden hatte wortlos aufgegeben, und Vojko hatte den Triumph genossen, sich eines aufdringlichen Gesprächspartners entledigt zu haben.
|
zur Homepage (Übersicht) zum Anfang
Meine eMail-Adresse ist
mail@regina-berlinghof.de oder mail@regina-berlinghof.de