Regina Berlinghof:

Das Opfer

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Das Opfer - 11
 

Eines Morgens sah sie in den Spiegel und sah das Wrack, das sie geworden war. Und das Schlimmste war, daß sie wußte, daß Daniel sie nicht mehr erkennen würde, wenn er je zurückkam. Sie hatte nicht geglaubt, daß es noch eine Steigerung der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit geben könnte. Aber als sie sich jetzt sah - fremd für sich und fremd für ihr Kind, ihr öffentliches Auftreten ein sinnloses Treten auf den Gashebel, weil niemand einen Gang einlegte und sein Verhalten einkuppelte, ihre Verzweiflung nichts als Futter für die sensationsgierige Öffentlichkeit, da starb der Motor in ihr. Ihre Gefühle lösten sich auf in einem grauen Nichts. Es gab nichts mehr zu ertragen und nichts mehr zu tun. Was sollte sie noch - sie konnte doch nichts bewirken. Eine große Gleichgültigkeit breitete sich aus. Zählte überhaupt noch etwas? Sie dachte an Daniel - selbst ihr Sohn, ihre tiefste Liebe, war fern gerückt - nicht mehr fühlbar, nicht mehr greifbar. Sie erschrak vor dieser Liebelosigkeit als hätte sie etwas getötet. Aber je länger sie zuschaute, um so mehr erstarb in ihr. Ihr Verstand sagte ihr, daß sie dieses Sterben nicht zulassen dürfe. Aber das Leben schien ihr unwirklicher zu sein als der Tod. Sollte sie doch sterben. Wie ein dünnes Echo klang Daniels Weinen durch die dicke Schicht der Gleichgültigkeit. Nur noch ein letztes Wehren, nicht einmal mehr Aufbäumen. 

"Hört ihr mich," wisperte sie. "Bitte gebt ihn frei. Nehmt mich dafür. Er kann doch nichts dafür. Ich bin schuld. Ich habe es geschehen lassen. Ich habe zugesehen, ohne wissen, ohne sehen zu wollen. Aber das Kind ist unschuldig! Nehmt mich an seiner Stelle! - Bitte nehmt mich! An mir ist sowieso nichts mehr gelegen! Warum vergreift ihr euch an einem unschuldigen Kind! Nehmt mich - ich weiß wenigstens, warum es mir geschieht!" Ihre Kräfte verließen sie. Sie sank auf den Boden.

Daniels Weinen verfolgte sie selbst in den Abgrund. "Bitte," flüsterte sie, "laßt ihn und nehmt doch mich! Alles ertrage ich, nur nicht sein Weinen!" Das Weinen wurde lauter und durchdringender. Es füllte das Dunkel, in das sie gefallen war. "So helft ihm doch, laßt ihn in Ruhe!" "Mama," schrie Daniels Stimme, "Mama!" Er war so nahe. Sie streckte suchend die Arme nach ihm aus. "Daniel, wo bist du?" "Mama, Mama," er weinte, wie er sonst zuhause geweint hatte, wenn er sich verlassen fühlte. Ihre Augen öffneten sich. Ihr Blick fiel auf Daniel, der sich an die Stäbe seines Bettchens klammerte und kläglich nach ihr rief. 

Noch betäubt, schwach, ungläubig richtete sie sich auf. Ja, es war Daniel, der in seinem Bettchen weinte. Begreifen und Aufspringen war eines. Sie war an seinem Bett, nahm ihn auf und drückte ihn an sich. Während sich noch in sein Weinen ihre Tränen der Erleichterung und tiefer Dankbarkeit mischten, hörte sie das Telefon klingeln. Sie drückte Daniel fester an sich. Das Telefon gab nicht auf. Daniel fing wieder heftiger an zu weinen. Schließlich raffte sie sich auf und ging mit Daniel im Arm zu der unerbittlichen, fühllosen Klingelmaschine.

"Frau Siebert?" hörte sie Rosemarie Wahlbrechts atemlose Stimme.

"Ja?" 

"Es - es ist etwas Schreckliches passiert. Ihr Mann... ihr Mann ist plötzlich verschwunden." 

Einen Augenblick stand für Anja die Zeit still. Dann atmete sie langsam und tief aus. "So? Und?"

"Verstehen Sie mich denn nicht? Er ist einfach verschwunden! Wie in Luft aufgelöst!" 

"Ich verstehe sehr gut! Wie ist es denn passiert?"

"Wir hatten eine Besprechung in seinem Zimmer - und plötzlich war er nicht mehr da! Es ist uns allen völlig unerklärlich!"

Anja gab Daniel einen Kuß. Dann sagte sie: "Frau Wahlbrecht, sie sollten besser Oberkommissar Reuter von der Polizei verständigen. Er wird sich um den Fall kümmern."

Sie legte auf. Ein feines Lächeln, das erste seit Daniels Entführung, umspielte ihren Mund. 
 
 
 

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