Das Opfer - 01
Anja
Siebert hatte es sich vor dem Fernseher bequem gemacht. Sie hatte sich
ein Glas Bordeaux eingeschenkt und zur Feier des Tages eine Schachtel mit
den hausgefertigten Pralinées einer Nobelconfiserie aus der Innenstadt
geöffnet. Der kleine Daniel schlief schon fest im Zimmer nebenan.
Alles war bereit für die große Stunde, in der sie Jürgen
in einer Talkshow erleben durfte. Professor Dr. Jürgen Siebert war
als vehementer und beredter Verfechter für wissenschaftliche Tierversuche
zu der Runde eingeladen worden. Im Kreuzfeuer geharnischter, öffentlicher
Kritik war er einer der wenigen, die die Fahne für Wissenschaft und
Forschung hochhielten und die Fortsetzung der Tierversuche für unabdingbar
erklärten. Anja Siebert bewunderte ihren Mann, der so aufrichtig und
aufopfernd für seine Sache eintrat. Schließlich geschah es ausschließlich
zur Rettung von Menschenleben.
Endlich
begann die Sendung. Während Frau Siebert anfangs eine gewisse Nervosität
nicht unterdrücken konnte, gewann sie schnell ihre Ruhe zurück,
als sie ihren Mann, gelassen und souverän wie immer sprechen sah.
Er machte die beste Figur in der Runde. Nicht einmal der winzige Bildschirm
konnte die Tatsache unterschlagen, daß ihr Jürgen ein ausgesprochen
gutaussehender Mann war. Sein offenes, klares Gesicht, das von braunem,
welligem und noch ganz dichtem, fülligen Haar umrahmt war, hatte schöne,
regelmäßige Züge, und wenn er lächelte, zeigten sich
gesunde, weiße Zähne. Mit natürlicher, selbstsicherer Autorität
unterstrich er seine Sätze mit den Händen. Selbstverständlich
saß der dunkle Anzug tadellos und verriet dem Kenner einen erstklassigen
Schneider. Und dieser blendend aussehende Mann konnte glänzend formulieren!
Er behielt die Übersicht über Gedanken und Sprache, er scheute
keine Nebensätze und wußte sie korrekt zu beenden. Seine Worte
flossen in anschaulichen Bildern druckreif von den Lippen, seine Gedanken
entwickelten sich klar und schlüssig. Dabei war er auf die Logik und
Überzeugungskraft seiner Argumente gar nicht angewiesen. Vorgetragen
mit einer warmen und modulationsfähigen Baritonstimme gewannen seine
Sätze und ihr Inhalt die selbstverständliche Autorität,
die mit Schönheit und Wohlklang einhergeht.
Kurz
- er war ein Bilderbuchprofessor, wie sich ihn Studenten, Publikum und
eine Ehefrau nicht besser wünschen konnten. Schade, daß in der
Sitzrunde seine volle Größe und athletische Statur nicht zur
Geltung kamen. Er überragte Anja um gute dreißig Zentimeter,
dabei war sie keine kleine Frau!
Sie
prostete ihm zu, während er von wissenschaftlichem Fortschritt und
dem Wohl der Menschheit sprach. Das Studiopublikum, das ihn frostig begrüßt
und sogar mit einzelnen Buhrufen empfangen hatte, taute auf. Die anfänglichen
Zwischenrufe erstarben und machten sogar einem dünnen Applaus Platz,
der im Laufe der Zeit immer voller und wärmer wurde. Der Moderator,
der Professor Siebert zwar höflich vorgestellt aber doch mit deutlicher
Distanz begegnet war, neigte sich bald ehrfürchtig, ja fast demutsvoll
ihrem Mann zu. Was er sagte, das galt. Er sagte es leicht und mit einem
Lächeln auf den Lippen - vielleicht hatte es darum um so mehr Gewicht.
Professor Jürgen Siebert hatte wieder einmal sein Publikum erobert.
Es war jetzt schon klar, daß er einen glänzenden Sieg für
die Forschung davontragen würde.
Fortsetzung - Opfer02
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