Regina Berlinghof:

Das Opfer

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Das Opfer - 06
 

Das Foto entglitt ihrer Hand. Anja verharrte gelähmt in dem Sessel, die Augen weit geöffnet und blind geworden. Sie war in eine bleierne Stille eingetaucht. Das Grauen der Nacht hatte sie eingeholt und hielt sie in der Wirklichkeit des wachen Tages gefangen. Als sie sich endlich aus der Starre lösen konnte, war es dunkel geworden. Sie saß allein in dem dunklen Haus. Ihr Mann war noch nicht vom Labor zurückgekehrt. 

 Als er endlich eintraf, hatte er schon gegessen. Er stellte den Fernseher an, um die Nachrichten zu hören. Er schaute auf die bunten Bilder aus dem schwarzen Kasten, und Anja wußte, daß er nicht zuhörte. Irgendwie war sie sogar erleichtert. In seiner Gegenwart fühlte sie sich auf einmal beengt und schuldbewußt. Sie hatte das Gefühl, als müßte sie ihm eine Frage stellen. Aber sie brachte es nicht fertig. Nach den Nachrichten schauten sie eine alberne Komödie. Sie sahen sie stumm und ohne zu lachen. In dieser Nacht träumte Anja wieder von dem klagend weinenden Daniel und von der schrecklichen, hellen Gestalt. Die lachte und beugte sich zu Daniel. Daniel heulte schrill weinend auf. Anja spürte einen schmerzhaft bohrenden Stich im Arm. Wie hell brennendes Feuer fraß der Schmerz durch ihr Fleisch. Aber schlimmer noch als dieser Schmerz war Daniels gequältes Schreien und Weinen. Anja gefror das Blut. Sie war wach geworden. Aber der brennende Schmerz im Arm und Daniels Weinen war noch so wirklich und so schrecklich wie in dem Traum. Endlich konnte sie die Hand ausstreckten und das Licht anzünden. Jürgen lag neben ihr, der Mund halb offen. Beim Ausatmen rasselte er dumpf. Dann schien sich der Atem zu verlieren, um in einem plötzlichen aufbegehrenden und stotterndem Schnauben wieder die Luft einzuholen. Anja betrachtete ihren schlafenden Mann nicht zum ersten Mal. Ein weiches Lächeln lösten sonst diese Schnarchtöne aus. Dieses sanfte Schnarchen war die geheime Schwäche dieses herrlichen Mannes, seine Achillesferse, sein Lindenblatt, die winzige Schramme auf der glänzenden Rüstung des Helden. Und nur sie, Anja, wußte um diese lächerliche Schwäche. Sie liebte ihn darum um so mehr. So war es gewesen. Aber als er jetzt wieder zitternd und schnaubend den Atem in sich einzwang, fragte sie sich auf einmal, was sie daran so betörend und liebenswert gefunden hatte. Jürgen lag neben ihr, nichts ahnend von ihrem Schrecken und Daniels Weinen -  und schnarchte. Angewidert wandte sie sich ab. Sie stand auf, nahm ihr Bettzeug und zog damit ins Wohnzimmer auf die große Couch.

Als Jürgen Siebert am Morgen feststellte, daß seine Frau aus dem Schlafzimmer ausgezogen war, zog er nur kurz die Lippen hoch. Er aß sein Frühstück wie gewohnt und stellte seiner Frau keine Frage. Er war froh, als er ins Labor entweichen konnte.

Anja wanderte durch das Haus. Eine innere Unruhe trieb sie an, etwas zu tun. Sie mied den Tisch mit den Fotos. Sonst gab es keine Arbeit. Wie ein Tiger hinter Gitterstäben strich sie durch die Räume. Als sie wieder einmal an der verschlossenen Tür des Arbeitszimmers ihres Mannes vorbeikam, blieb sie wie angewurzelt stehen. Dann öffnete sie die Tür und ging zum Schreibtisch. Sie ließ den Computer in Ruhe, weil sie nicht wußte, wie man ihn bediente. Sie öffnete die Schubladen und hastete mit zitternden Fingern durch die Mappen und Ordner. Erst nach einer Weile ließ sie sich auf den Schreibtischstuhl fallen. Sie fühlte sich so erschöpft wie in einem fiebrigen Schwächeanfall. 

Wie harmlos Worte und Bilder sein können, wie nüchtern und solide wissenschaftliche Berichte: Worte geformt zu einfachen, klaren Sätzen, bestehend aus Subjekt, Prädikat und Objekt. Und diese Sätze wiederum logisch fein säuberlich aufeinander geschichtet - Bausteine der wissenschaftlichen Erkenntnis, des Fortschritts und der Zivilisation. Und aus jedem dieser harmlosen Worte, aus jedem dieser kristallklaren Sätze sprang sie das nächtliche Grauen an, das hämisch-gellende Lachen der hellen Lichtgestalt und das gequälte, wimmernde Weinen Daniels. "Verstehst du jetzt, was geschieht?" flüsterte eine Stimme in ihrem Innern. "Oder willst du die Wahrheit immer noch nicht erkennen?" Anja sprang auf. Sie konnte diesen Raum, dieses Haus nicht länger ertragen. 

Jürgen Siebert war nicht sehr erbaut, als seine Frau plötzlich im Büro auftauchte. Er bot ihr höflich einen Platz an. Als er noch nach den rechten Worten für eine einleitende Frage suchte, sagte Anja "Laß mich deine Experimente sehen. Ich will deine Tiere sehen und sehen, was du mit ihnen machst!"

Anja starrte ihn mit bösen und zu Schlitzen verengten Augen an, als wäre er ein Fremder - und ein Gegner. 

"Sicher - aber es würde mich interessieren, warum du ausgerechnet jetzt - ohne jede Vorankündigung - meine Arbeiten sehen willst." Er versuchte, Zeit zu gewinnen. 

Anja konnte seinen Anblick kaum ertragen. Wie herrscherlich er dasaß! Wie kühl und souverän er seine Autorität behauptete. Wie sie ihn einst dafür geliebt und bewundert hatte! Aber das war in jener Zeit, die jetzt ferner war als die eigene Kindheit. 

"Wie gut du taktieren kannst," sagte sie bitter. "Wenn ich daran denke, wie stolz ich war, als du sie im Fernsehen in Grund und Boden geredet hast! - Aber es geschieht mir ja recht. Ich war dumm und blind - und wollte dumm und blind bleiben. Es war ja so viel bequemer und angenehmer!" Sie schluckte. "Ich habe deine Arbeiten gelesen."

"Ich verstehe." Er nickte - mehr zu sich selbst als zu ihr.

Anja staunte über den Haß, der wie ätzende Salzsäure in ihr brannte. Sie kämpfte um ihre Beherrschung. "Ob du verstehst oder nicht, ist mir egal. Ich will nur deine Experimente sehen! Ich will sie selbst sehen!"
 "Wir sind gerade in einem sehr wichtigen Versuchsstadium, das keinerlei Störungen verträgt. - Verschieben wir die Besichtigung auf ein anderes Mal, wenn ich dir auch mehr Zeit widmen kann."

Er hatte jenen selbstsicheren, beruhigend sachlich kühlen Ton in der Stimme, mit dem er aufmüpfige Studenten oder aufgeregte Gegner zur Strecke brachte. Anja registrierte den unterschwelligen Bändigungsversuch mit höhnischem Lachen. Die hypnotische Stimme hatte auf sie ihre Wirkung verloren. 

"Halte mich nicht hin - ich kenne deine Tricks! Mich kannst du mit deiner Jovialität und Überheblichkeit nicht mehr beeindrucken!" 

Schneller als er reagieren konnte, war sie aufgesprungen und durch die Seitentür ins Labor geschlüpft.
 
 

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