Regina Berlinghof:

Das Opfer

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Das Opfer - 07
 

Rosemarie Wahlbrecht, die engste Mitarbeiterin Professor Sieberts und gut befreundet mit Anja, stand an dem großen Tisch in der Mitte des Raumes, dessen Seitenwände mit Drahtkäfigen tapeziert war. Vor ihr, in ein Metallgestell eingezwängt, so daß selbst der Kopf festsaß, hockte eine grauweiße Katze. Aus ihrer Schädeldecke ragten Drähte, die an ein Gerät angeschlossen waren. Eine Maschine flößte ihr in kurzen Abständen mit einer Art Einwegkanüle eine Flüssigkeit ein. Jedesmal schlugen dann auf dem Bildschirm des Meßgerätes einige flache Linien in heftige Wellengebirge aus. Die Katze, die der Kanüle nicht ausweichen konnte, mußte schlucken und schlucken. Bei jedem Schluck flackerte der Bildschirm in wilden Wellenlinien. Rosemarie kam auf Anja zu und streckte ihr die Hand entgegen. Anja schien es, als käme eine Greifzange auf sie zu, an deren Enden Kanüle hingen. Sie zitterte, es wurde ihr übel, dann wurde es um sie schwarz.

Sie wachte zuhause in ihrem Bett wieder auf. Als sie ihren Mann neben sich am Bett sitzen sah, stöhnte sie auf und wandte sie ab.

"Anja, laß mich erklären..."

"Laß mich in Ruhe - und rühr mich nicht an. Ich will schlafen."

Sie hörte, wie ihr Mann aufstand und das Schlafzimmer verließ. Sie war so müde, ihr Körper völlig zerschlagen. Als sie die Augen schloß, kamen die Bilder zurück. Nein, es war nur ein Bild - das der schluckenden, drahtimplantierten Katze. Tränen fingen an, über ihr Gesicht zu laufen. "Sie hat nicht einmal schreien können - nur schlucken, schlucken..." Sie sah sich selbst mit der Zwangsgabel im Genick. Ihr Mund war aufgesperrt - und eine riesige Kanüle fuhr hinein und entlud ihren Inhalt. Und sie mußte schlucken, schlucken, nur schlucken. Dann sah sie sich, wie sie früher elegant gekleidet, voll Stolz durch ihr Haus gegangen war und die Gäste empfangen hatte. Jürgen war stolz auf sie, weil sie so schön und strahlend war. Ihre Freundlichkeit und ihr Charme hatten alle bezaubert. Und im Hintergrund gab es da eine Katze, die schlucken mußte. Tiere, denen Drähte in den Kopf gepflanzt waren. Tiere, denen brennende, ätzende Tinkturen eingeflößt, in die Augen geträufelt oder auf die Haut aufgetragen wurden. Da war ihr erfolgreicher, gutaussehender Mann, der Mann, der sie liebte - der Mann, dessen Erfolg und Überlegenheit auf dem Elend der Tiere begründet war. Sie alle hatten von dem Elend gelebt und profitiert. Auch sie selbst. Sie hatte es gebilligt, daß ihr Mann mit Tierversuchen arbeitete. Aber hatte sie wirklich gewußt, was er da tat? Hatte sie es denn wirklich wissen wollen? Sie hatte sich mit Worten und Erklärungen zufrieden gegeben. Es geschah ja nicht, um die armen Geschöpfe zu quälen. Es diente dem Leben und der Gesundheit der Menschen. Damit schien alles gerechtfertigt zu sein. Oder wollte sie vielleicht ohne ein rettendes Medikament sterben - nur weil man es nicht erproben durfte? "Aber um welchen Preis - um welchen Preis," stöhnte sie auf. Hatte sie sich je gefragt, ob der Mensch so rücksichtslos sein eigenes Wohlergehen über alles stellen durfte? "Woher haben wir das Recht? Woher nehmen wir es uns?" 

 Und dann tauchte das Bild auf, vor dem sie sich so fürchtete. Das Bild, vor dem sie immer aufgewacht war. Aber jetzt konnte sie nicht aufwachen. Sie war ja wach, so wach, daß sie nicht mehr ausweichen konnte. Sie sah wieder die Katze in der Gabel - und ihre Gestalt veränderte sich, verwandelte sich - und sie sah Daniel eingezwängt in die Halterung - und er mußte schlucken, schlucken. Und hinter ihm stand eine helle, weißgekleidete Gestalt und sah zu - neugierig, interessiert, ohne eine Gefühlsregung. Sie sah nicht auf den schluckenden Daniel - sondern nur auf den Bildschirm mit den Meßanzeigen. Das war es, was die helle Gestalt faszinierte. Alles übrige war ihr gleichgültig - jedenfalls solange alles funktionierte. Solange Daniel schluckte, war sie zufrieden. Alles andere interessierte sie an Daniel nicht. Anja wollte schreien, aber sie hatte keine Kraft. Und wer wäre auch zu Hilfe gekommen?

Und dann, als wäre auf einmal ein Fenster aufgegangen und das Licht hereingeströmt, sah sie, woher die Hilfe kommen mußte und kam! Sie selbst war es, die helfen mußte! Sie war gefordert. Merkwürdig - immer hatte sie geglaubt, daß Hilfe von außen und von anderen kommen mußte. Sie selbst hatte sich nie für verantwortlich - und auch nie für fähig gehalten, etwas tun zu können. Aber an ihr lag es. Sie selbst mußte es tun. 

Sie sprang aus dem Bett. Ihr Mann saß in seinem Arbeitszimmer vor dem Computer und arbeitete. "Du mußt diese Tierversuche einstellen, sofort," sagte sie. "Alle Tierversuche müssen eingestellt werden. Dafür müssen wir sorgen. Es ist unsere einzige Chance, Daniel wieder zurückzubekommen."

"Was haben meine Versuche mit Daniel zu tun?" Jürgen Siebert sicherte seine Datei und stand auf. Offensichtlich war Anja nicht mehr Herrin ihrer selbst. Es war alles zuviel für ihre Nerven.
 
 
 

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