Regina Berlinghof:

Das Opfer

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Das Opfer - 10
 

Siebert bedankte sich. Von der Polizei war keine Hilfe zu erwarten. Er wußte nicht, wie er Anja zur Vernunft bringen konnte. Er mußte abwarten und auf die Wirkung der Zeit vertrauen.

Anja hatte kein Abendessen vorbereitet. Er schnitt sich ein paar Brote und bediente sich aus dem Kühlschrank. Am nächsten Morgen mußte er sich selbst den Kaffee kochen. Anja war nicht aufgestanden, um ihm das Frühstück zu bereiten. Als er am Abend nach Hause kam, hatte Anja die Bücher wieder auf seinem Schreibtisch aufgetürmt. Sie selbst ließ sich nicht blicken und hatte wieder kein Essen vorbereitet. Für Siebert wurden die Abende und Morgen zuhause unerträglich. Seine Frau ging ihm aus dem Weg. Er mußte sich seine Mahlzeiten selbst zubereiten. Jedesmal fand er die Bücher auf seinem Schreibtisch, jedesmal räumte er sie fort. Er gewöhnte sich an, abends noch länger im Labor zu bleiben und in Restaurants zu essen. Immer wieder kehrte er doch zurück in der Hoffnung, daß Daniel gefunden und seine Frau endlich zur Vernunft gekommen sei. 

 Dann kam der Eklat. Anja war zum Tierschutzbund gegangen und hatte dort ihre Geschichte erzählt. Man hatte ihr ungläubig zugehört - und hielt ihre Geschichte für ebenso unwahrscheinlich und absurd wie ihr Mann. Und während Anja noch erzählte, sah sie sich mit den Augen der Tierschützer - eine hysterische Frau, die sich in ihrer Verzweiflung an jeden Strohhalm klammerte. In ihren Augen ging es ihr nicht um den Tierschutz, sondern nur um die Rettung ihres Sohnes. Trotzdem konnte sie es nicht fassen. Sie wollten ihre Hilfe nicht. Denn war es nicht eine Hilfe für die Tierschützer, wenn die Frau des bekanntesten und angesehensten Kämpfers für die Tierversuche sich auf einmal auf ihre Seite stellte? Nein, auch sie glaubten ihren Träumen nicht. Sie hatten Angst, sich mit einer Phantastin einzulassen. Mit dem Übernatürlichen, Übersinnlichen wollten sie nichts zu tun haben. Sie hatten Angst, sich mit ihr lächerlich zu machen und der Sache mehr zu schaden als zu nutzen. 

Anja gab so schnell nicht auf. Wenn die Tierschützer nicht auf sie hören wollten, dann würde die Presse ein offenes Ohr für sie haben. Zu ihrem Erstaunen reagierte die örtliche Zeitung ähnlich vorsichtig abweisend wie die Tierschützer. Erst die Boulevardpresse nahm sich ihrer Geschichte freudig an. Es gab dicke Schlagzeilen auf der ersten Seite. "Gibt es höhere Intelligenzen?" "Haben Besucher von anderem Stern Daniel entführt?" "Sind die Fremden Anwälte der Tiere?" "Ein Menschenkind als Versuchskaninchen bei Außerirdischen". Die Wellen schlugen hoch. Die privaten Fernsehsender und schließlich auch die öffentlich-rechtlichen Programme kamen nicht mehr umhin, sich des Themas  anzunehmen. Die Talk-Shows rissen sich um Anja. Und Anja trat auf und sprach. Man hätte am liebsten sie und ihren Mann in einem gegenseitigen Show-down zusammen auf den Bildschirm gebracht. Aber Jürgen Siebert verweigerte wenig überraschend alle Interviews und jede Beteiligung am Medienbetrieb.

"Wenn du glaubst, daß du mich klein kriegst, indem du mich und meine Arbeit durch den Dreck ziehst, dann irrst du dich!" hatte er nur einmal zwischen seinen Zähnen ausgespuckt, als Anja von einer Talkshow nach Hause kam. Ansonsten herrschte Schweigen zwischen ihnen, wenn sie sich überhaupt noch sahen. Sie mieden sich einander - mieden die Begegnungen in Bad und Küche. Jürgen Siebert herrschte über Wohn- und Schlafzimmer. Anja Siebert hatte sich in Daniels Zimmer und im Gästezimmer verbarrikadiert. Keiner zog aus dem Haus, obwohl die Gegenwart des anderen unerträglich geworden war. Es war die aberwitzige Hoffnung auf Daniels Rückkehr, die sie an das Haus geschmiedet hielt.

Anjas Geschichte entfachte einen öffentlichen Sturm, der sich gegen die Tierversuche, die KZ-Bedingungen der Massentierhaltung und die Grausamkeiten der Tiertransporte richtete. In der Praxis änderte sich nichts. Tagtäglich verließ Jürgen Siebert das Haus, um in seinem Labor die Versuche fortzusetzen. Billiges Fleisch war weiterhin gefragt - und der Absatz von Medikamenten und Kosmetika zeigte eher eine steigende Tendenz. 

Nachts lag Anja neben Daniels Bett, hörte sein erbärmliches Weinen und teilte sein Grauen vor den hellen großen Gestalten. Sie war inzwischen erschreckend abgemagert. Ihre Augen lagen in dunklen Höhlen und brannten stechend aus dem Dunkel. Sie war noch nicht einmal dreißig - aber in ihr Gesicht waren tiefe Furchen gezogen. Ihre Haut war schlaff und trocken geworden wie die einer Fünfzigjährigen. Sie hatte wieder angefangen zu rauchen. Und während sie noch zitternd die brennende Zigarette ausdrückte, langte sie schon wieder nach der Schachtel, um sich die nächste anzustecken.
 
 

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