Regina Berlinghof. Mirjam. Roman

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PROLOG (Textdatei)

Meldung der Vereinigten Nachrichtendienste
Jordanien, Amman, 24. April ..., 17.32 Uhr

"Unbestätigten Berichten zufolge wurden in einer Höhle am Ostufer des Toten Meeres Schriftrollen aus frühchristlicher Zeit entdeckt, darunter ein bisher unbekanntes ´Evangelium der Maria Magdalena´."

Die Meldung wurde augenblicklich von allen Tickern und Nachrichtendiensten ausgestrahlt. In Europa, in Nord- und Südamerika und in vielen Ländern Afrikas und Asiens mit überwiegend christlicher Bevölkerung unterbrachen die Rundfunk- und Fernsehsender die laufenden Programme, um über den Fund zu berichten.

*****

Die Abendnachrichten in Europa brachten bereits ausführlichere Informationen. Da alle Sender auf eine einzige Quelle, nämlich den Bericht eines zufällig vor Ort anwesenden Journalisten zurückgreifen mußten, glichen sich die Sendungen, wie es nur Kopien einer einzigen Vorlage tun können:

"Junger Wissenschaftler bricht Mauer des Schweigens

Einem jungen Archäologen ist es zu verdanken, daß die Welt Kenntnis von dem bisher spektakulärsten archäologischen Fund aller Zeiten erhält. Er übertrifft in seiner Seltenheit und Tragweite noch die Funde der Schriftrollen von Qumran, die Entdeckung des Grabes des Tut-Ench-Amun und die Ausgrabung Trojas! Uns ist ein uraltes Zeugnis geschenkt worden, ein Zeugnis von dem Mann, der die Geschichte der Menschheit wie nur wenige bewegt hat: ein Zeugnis von dem Manne, der für viele Gottes Sohn ist und zu dem Millionen und Millionen heute wie vor zweitausend Jahren ihre Hände zum Gebet erheben. Es ist Jesus Christus, der am Kreuz gestorben und nach drei Tagen wieder auferstanden ist. Denn das Einzigartige und Sensationelle an diesen Rollen ist, daß es sich um unversehrt und vollständig erhaltene Orginalhandschriften handelt, die um 50 n. Chr. verfaßt wurden, also nicht einmal zwanzig Jahre nach Jesu Tod. Damit wären sie älter als das älteste Evangelium des Neuen Testamentes, das Markusevangelium, dessen Entstehungszeit auf 70 n. Chr. geschätzt wird. Aber weder das Markusevangelium noch eines der anderen Evangelien des Neuen Testamentes liegt uns in seiner Urschrift vor. Wir verfügen nur über die Abschriften von Abschriften, die von den Kopisten oft genug noch verändert und mit Ergänzungen versehen worden sind. Erst im vierten Jahrhundert wurden die Evangelien in der uns heute vorliegenden Fassung festgeschrieben und kanonisiert. Und während man sich bei den biblischen Evangelien nicht einmal sicher ist, ob die Evangelisten Markus, Matthäus, Lukas und Johannes wirklich die Verfasser sind und ob sie Jesus selbst noch gekannt haben, stammen die Schriftrollen vom Ostufer des Toten Meeres von Hand einer der engsten Jünger und Vertrauten Jesu: von einer Frau, die uns - zumindest dem Namen nach - von Kindheit an vertraut ist: von Maria Magdalena selbst.

Was wird sie berichten? Was wird sie uns zu sagen haben?

Die Schriftrollen wurden schon im vergangenen Sommer gefunden, aber zunächst unter höchster Geheimhaltung untersucht. Angesichts der epochalen Bedeutung wollte man ganz sicher gehen, daß es sich bei diesen Rollen wirklich um echte Schriftstücke aus der frühchristlichen Zeit handelt und nicht um Fälschungen der nachfolgenden Jahrhunderte. Unter den Wissenschaftlern, die vom ´Christlichen Archäologischen Institut´ in Jerusalem an das Ostufer des Toten Meeres entsandt wurden, um nach frühen Spuren christlichen Lebens zu suchen, bildeten sich früh Meinungsverschiedenheiten über den Zeitpunkt der Veröffentlichung. Die Leitung übergab die Angelegenheit dem Vatikan, der die strenge Geheimhaltung des Fundes veranlaßte. Das ´Evangelium der Maria Magdalena´ scheint von solch theologischer Brisanz zu sein, daß die Entscheidung, mit den Funden an die Öffentlichkeit zu treten, von allerhöchsten kirchlichen Stellen immer weiter hinausgeschoben wurde.

Wir verdanken es dem jungen niederländischen Archäologen und Jesuitenpater Aloysius van der Muylen, daß der Bann des Schweigens gebrochen wurde. In einem mutigen Schritt hat er heute die Presse informiert und Abschriften der Rollen Fachleuten aus aller Welt zukommen lassen. Text und Inhalt der Schriftrollen stehen damit endlich der wissenschaftlichen Forschung zur Verfügung. Und nicht zuletzt hat auch die breite christliche Öffentlichkeit ein berechtigtes Interesse, umfassend über alle Erkenntnisse von Jesu Leben und Wirken informiert zu werden."

Die Nachrichtensendungen brachten dann kurze Stellungnahmen oder Nichtstellungnahmen von kirchlichen und theologischen Seiten. Der Vatikan wies entschieden alle Vorwürfe der Geheimniskrämerei und Vertuschung zurück und erinnerte an den Skandal, den die Hitlertagebücher ausgelöst hatten. Solange die Echtheit der Schriftrollen nicht gesichert sei, dürfe man nicht mit einer vorschnellen Veröffentlichung die Gläubigen in aller Welt in Verwirrung stürzen. Noch weniger dürfe man die Person Jesu Christi einem ähnlichen, nur der Sensationsgier dienenden Wirbel aussetzen. Die Sprecher der orthodoxen Kirchen erklärten, es sei noch zu früh, um eine Stellungnahme abzugeben. Die protestantischen Kirchenvertreter äußerten sich ähnlich vorsichtig, gaben aber der Hoffnung Ausdruck, daß sich die Schriftrollen als echt erweisen würden. Man sei sehr daran interessiert, neue, wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse über Jesu Leben und Wirken zu gewinnen. Dies werde die Wirkung seiner Botschaft nur erhöhen. Die charismatischen amerikanischen Fernsehprediger frohlockten und bezeichneten die Entdeckung der Schriftrollen als Zeichen Gottes für die Respiritualisierung der Welt. Jesus Christus werde bald selbst wieder zu den Menschen sprechen - "zu uns Menschen von heute!" Jesus helfe und heile alle - auch die Erde und die gefährdete Umwelt! Das "New Age"breche mit Jesus an! Dann beteten sie und baten um Spenden, um den Heilungsprozeß zu beschleunigen. Fundamentalistische Vertreter forderten die Gläubigen zu Buße und Umkehr auf, denn die Wiederkunft des Heilandes und der Tag des Gerichts seien nahe.

******

Die größeren Rundfunk- und Fernsehanstalten schlossen ihre Berichterstattung mit dem Interview eines theologischen "Experten" ab. Die Fragen und Antworten schienen einem vorgegebenen Raster zu folgen.

"Sie, Frau/Herr Professor, gelten als eine der größten Kapazitäten auf dem Gebiet der frühchristlichen Kirchengeschichte. Was sagen Sie zu dem sensationellen Fund?"

"Nun, äh - wenn sich erweisen sollte, daß es sich hier tatsächlich um Schriftrollen von der Hand Maria Magdalenas handelt, dann - äh - kann man diesen Fund wahrhaft als sensationell bezeichnen."

"Wer war Maria Magdalena? Können Sie unseren Zuschauern/Zuhörern einen kurzen Abriß über ihr Leben geben? Was steht von ihr in der Bibel, was wissen wir von ihr?"

"Leider nicht sehr viel. In den Evangelien wird sie an zwei Stellen genannt: einmal als eine Frau, die von Jesus geheilt wird. Bei Lukas lesen wir zum Beispiel in Kapitel 8, Vers 1 und 2: ´Und es begab sich darnach, daß er reiste durch Städte und Märkte und predigte und verkündigte das Evangelium vom Reiche Gottes; und die Zwölf mit ihm - das sind seine Jünger -, dazu etliche Weiber, die er gesund hatte gemacht von den bösen Geistern und Krankheiten, nämlich Maria, die da Magdalena heißt, von welcher waren sieben Teufel ausgefahren.´ Ich habe hier nach der alten Lutherübersetzung zitiert. Magdalena ist kein zweiter Name, sondern bezeichnet ihren Herkunftsort Magdala, heute Migdal, das am Westufer des Sees Genezareth, etwas nördlich von Tiberias liegt. Richtig müßte es also heißen: Maria aus Magdala oder Migdal. Später finden wir Maria Magdalena erwähnt als eine der Frauen, die am dritten Tag das Grab offen und leer vorgefunden haben. Sie und die anderen Frauen waren die ersten, denen der auferstandene Christus erschienen ist. Mehr wird von ihr nicht berichtet."

"Aber was hat es dann mit der ´Sünderin´ Maria Magdalena auf sich? Woher kommt diese Überlieferung? Stammt sie nicht auch aus der Bibel?"

"Im Lukasevangelium wird im siebten Kapitel die Geschichte von einer Frau erzählt, die eine Sünderin war. Jesus war bei einem Pharisäer zu Gast, als sie weinend zu ihm trat, seine Füße küßte und salbte und mit ihren Haaren trocknete. Der Pharisäer warf Jesus vor, daß er sich von einer unreinen Sünderin berühren ließe, worauf Jesus sagte, wer so viel liebe, dem seien die Sünden vergeben. Nun wird in dieser Episode der Name der Frau nirgends erwähnt. Die drei anderen Evangelien berichten - mit nur geringfügigen Abweichungen voneinander - ebenfalls von einer Salbung, die sich aber später in Bethanien ereignet hat. Von einer Sünderin ist bei ihnen nie die Rede. Markus und Matthäus erwähnen nicht einmal ihren Namen. Bei Johannes spielt sich die Salbung im Haus des Lazarus ab, wobei unklar bleibt, ob es sich bei der genannten Maria um seine Schwester oder um Maria Magdalena handelt. Noch in frühchristlicher Zeit flossen die ungenannte Sünderin und Maria Magdalena zu einer einzigen Person zusammen. Diese Überlieferung - man sollte sie besser eine Legende nennen - hat sich durch die Jahrhunderte verfestigt und bis heute erhalten. Die Texte der Bibel geben selbst - äh - keinerlei Anhaltspunkte hierfür."

"Halten Sie es für wahrscheinlich, daß eine Frau, die man wohl eine Jüngerin Jesu bezeichnen könnte, einen eigenen Bericht verfaßt hat? Wenn ja, warum ist dann ihr Evangelium nicht auch überliefert?"

"Nun, äh - Sie müssen bedenken, daß die Frau in der griechisch-römischen Antike und ebenso in der jüdischen Kultur zur Zeit Christi öffentlich praktisch nicht in Erscheinung trat. Es ist erstaunlich genug, daß die Bibel davon berichtet, daß sich Frauen im Gefolge Jesu aufhielten. Das ist ein absolut außergewöhnliches Phänomen. Die Frauen unterstanden damals vollständig der Gewalt des Mannes - erst der ihres Vaters, dann der ihres Ehemannes. Wir finden ähnliche Verhältnisse noch heute in einigen muslimischen Staaten, gerade was die rechtliche Stellung der Frauen und ihre Bewegungsfreiheit betrifft. Allerdings hat es auch damals schon Frauen gegeben, die lesen und schreiben konnten. Insofern könnte sie durchaus ein eigenes Evangelium verfaßt haben. Es ist aber kaum wahrscheinlich, daß ihre Schriften an die Öffentlichkeit gelangten. Bedenken Sie, eine Frau hatte keine eigene Rechtsfähigkeit. Was sie sagte, hatte soviel Geltung und Bedeutung wie das Lallen eines Kindes. Selbst die Jünger schenkten den Frauen keinen Glauben, als sie von der Erscheinung des auferstandenen Christus erzählten. Andere hätten ihre Berichte als Ausgeburt einer Wahnsinnigen abgetan. Ob sie zu den Menschen von Jesus sprach oder schrieb - ihrem Zeugnis als Frau kam keinerlei Autorität zu. Eine Frau als Geschichtsschreiberin - das war für die damalige Zeit undenkbar. Ihre Schriften wären totgeschwiegen worden. Wir können also nicht erwarten, daß ein Evangelium Maria Magdalenas (oder das irgendeiner anderen Frau) in den biblischen Kanon aufgenommen oder wenigstens mit den apokryphen Schriften überliefert worden wäre. Kein männlicher Autor der damaligen Epoche würde das Zeugnis einer Frau aufgreifen, zitieren oder nur dessen Vorhandensein erwähnen. Wenn Maria Magdalena tatsächlich ein eigenes Evangelium geschrieben hat, so war es für ihre Zeitgenossen so gut wie nicht vorhanden."

"Frau/Herr Professor, wir danken Ihnen für dieses Gespräch."

*****

Brief des Pater Aloysius van der Muylen, SJ,
aufgegeben in Mukawwir (Machärus) bei Libb am 24. April ...

Empfängerin: Yael Atzmany, Professorin für Semitistik an der
University of California, Berkeley, Calif., USA:

"Liebe Yael,

wenn Du dieses Paket erhältst, wird der Rummel schon losgebrochen sein. Weitschweifige Erklärungen erübrigen sich also. Ich vertraue Dir die Abschriften der Rollen an und hoffe, daß sie genau und leserlich sind. Du als Nichtchristin und Spezialistin für Althebräisch und Aramäisch wirst für eine wissenschaftlich fundierte Veröffentlichung und Übersetzung sorgen. Ich kann heute nur die Gelegenheit nutzen, die Rollen in die Außenwelt und damit in Sicherheit zu bringen. Der Gedanke beschäftigte mich schon seit einiger Zeit. Heute wurde die Tat unumgänglich.

Durch unser Institutsblättchen war Dir sicher bekannt, daß ich die trockene Büroluft mit der noch trockeneren Wüstenluft vertauscht hatte, um bei den Ausgrabungen der Herodesfestung Machärus dabei zu sein. Wir suchten in der Nähe des Palastes, in dem Johannes der Täufer und Salome den Tod gefunden haben sollen, nach Resten einer christlichen Siedlung. Wir fanden unsere Annahme bald bestätigt. An Hauswänden, ja selbst an Felsen außerhalb der Stadt fanden wir den eingeritzten Fisch und das Kreuz. Aufregend für uns war es, daß sich unter den vielen unbestimmbaren Graffiti öfter drei längs gewellte Linien wiederholten, denen wegen ihrer Häufigkeit eine gewissen Bedeutung zukommen mußte. Wir waren so mutig, darin das Zeichen für Johannes den Täufer zu sehen - die Wellenlinien als Sinnbilder des fließenden Wassers bei der Taufe. Eine solche Ausbeute hatten wir kaum zu erhoffen gewagt. Die Bestimmung der Keramiken und der sonstigen Funde ergab, daß es sich um Siedlungsschichten aus dem ersten Jahrhundert unserer Zeit handelt, und zwar aus der Zeit vor der Zerstörung der Festung durch Titus und seine Legionen.

Am Ende der Sommerexpedition vergangenen Jahres geschah es dann. Ich hatte mich mit einem Beduinen befreundet, der uns mit großen Augen öfter von weitem zusah und sich nie um die Hilfsarbeiterjobs drängelte wie die anderen. Eines Tages fragte er mich, warum wir denn immer in der Vergangenheit stochern müßten. Wir sollten doch die Toten ruhen lassen und in der Gegenwart leben. Wir kamen in ein herrliches philosophisches Gespräch, das nur getrübt wurde durch mein holpriges Arabisch. Salama nahm mich dann manchmal zu seinen Zelten mit und zeigte mir die Schönheiten der Berge und Wadis.

Als er erfuhr, daß unser Aufbruch in den nächsten Tagen bevorstand, kam er sehr aufgeregt zu mir. Ob wir wirklich gingen? Ob wir im nächsten Sommer wiederkämen? Wir waren beide sehr traurig, als ich ihm sagen mußte, daß wir nicht genug Geld hätten, um die Ausgrabungskampagne fortzusetzen. Außerdem würden wir kaum noch Funde von besonderer Bedeutung erwarten. ´Ich werde dich sehr vermissen´, sagte er. ´Du bist mein Freund. Freunde sollen nicht voneinander scheiden.´ Und dann kam es: Ob wir blieben, wenn wir noch wichtige Dinge finden würden? Ich: Wenn es wirklich wichtige Dinge wären, würde unser Institut vielleicht weitere Geldmittel auftreiben können. Aber sicher wäre ich nicht. Diese Worte genügten ihm. Er versprach, mir am nächsten Tag etwas zu zeigen, das bestimmt die Macht hätte, mich in Mukawwir zu halten. Es sei ein großer Schatz. Das weitere kannst Du Dir denken. Die Geschichte des Fundes der Schriftrollen von Qumran (nun Qimron HaSchamajim - Himmelsgewölbe?) wiederholte sich auf der Ostseite des Toten Meeres.

Ich weiß, Du gehörst zu den wenigen, die wirklich nachfühlen können, was in mir vorging, als Salama mich in die Höhle mit den Tonkrügen führte. Kein einziger war beschädigt! Alle bis auf einen waren sogar noch versiegelt. Diesen einen hatte Salama geöffnet, um herauszufinden, was sich darin befand. Erst als er auf die Schriftrollen stieß, wurde ihm klar, daß sich die Krüge seit urdenklichen Zeiten in der Höhle befunden haben mußten. Die unbeschädigten Tonkrüge selbst hatten mich schon in helle Aufregung versetzt. Als Salama mir die Schriftrollen zeigte, muß ich total die Beherrschung verloren haben. Ich glaube, ich brach in Tränen aus und lachte und tanzte wie ein Besessener. Dann überfiel mich die Furcht, er könnte mich zum Narren gehalten und mir geschickt präparierte Stücke dargeboten haben. Dann hörte ich wieder Salamas Stimme, und ich wußte, daß er mich nie betrügen würde. Ich weiß nicht mehr, wie ich ins Lager gekommen bin.

Nach meiner Rückkehr geriet das ganze Team in eine ähnlich euphorische Stimmung. Es war uns klar, daß wir die ganze Sache strikt geheimhalten mußten, wenn wir in Ruhe die Rollen erforschen wollten. Wir dachten mit Schrecken an den Ansturm der Medien und an all die fragwürdigen Gestalten und Schatzsucher, die solch ein Fund herbeilocken würde. Sie würden die Höhlen der Umgebung nach weiteren Schriftrollen durchwühlen und alles kaputttrampeln, was noch an Ton- und Keramikscherben herumlag. Um jede Gefahr des vorzeitigen Durchsickerns unserer Entdeckung zu vermeiden, unterließen wir es sogar, den Kreis der Wissenschaftler zu erweitern, wie es eigentlich nötig gewesen wäre. Nur an allerhöchster kirchlicher Stelle wurde Meldung gemacht. - Du weißt, in unserer Kirche lernt man schweigen. Wir bekamen Geld, um unsere ´Grabungen´ wie bisher fortzusetzen. Niemand schöpfte Verdacht. Da man an unsere früheren Exkursionen gewöhnt war, fiel es gar nicht auf, als ich mit Salama heimlich Stück für Stück die kostbaren Krüge in unser Lager transportierte. Ich wurde - soweit es nach außen zu vertreten war - von meiner archäologischen Alltagsarbeit befreit und sollte die Schriftrollen sichten und eine Rohübersetzung anfertigen, soweit es der Zustand der Rollen erlaubte. Ich begehrte zunächst dagegen auf - es widersprach allen wissenschaftlichen Regeln. Zuallererst mußten schließlich die Rollen gesichert werden. Ich hatte Angst, sie würden mir beim Lesen unter den Händen zerfallen. Es wird einen Aufschrei in der Fachwelt und in der Öffentlichkeit geben, wenn bekannt wird, wie dilettantisch und leichtfertig wir mit diesem unschätzbaren Material umgegangen sind. Schon damals hätte ich meinen Mund auftun müssen. Aber damals siegte noch der Kirchenmann über den Wissenschaftler. Ich hatte zu gut gehorchen gelernt. Natürlich versorgte ich mich unauffällig mit Informationen über die Präparierung der Rollen und tat, was ich unter den Campbedingungen tun konnte. Es war herzlich wenig. Aber die Papyrusmischung, aus der die Rollen hergestellt waren, war besonders widerstandsfähig. Die Rollen litten weniger, als ich befürchtet hatte.

Glaube mir, ich ging mit dem schlechtesten Gewissen der Welt an die Entzifferung der Rollen - und war gleichzeitig überglücklich, ja selig, daß ich es war, der sie als erster Mensch unserer Zeit lesen durfte. Ich war völlig hin- und hergerissen. Als gehorsamer Kirchenmann mußte ich schweigen, als verantwortlicher Wissenschaftler hätte ich aufschreien und die Fachwelt informieren sollen und als besessener Forscher wollte ich alles selbst entdecken, alles selbst erkunden.

Es hätte ein Blitz neben uns einschlagen können, ohne daß wir etwas davon bemerkt hätten, als ich zu der Rolle kam, aus der eindeutig hervorging, daß es sich um Aufzeichnungen eines zum Christen bekehrten jungen Esseners, Yoram Bar Am, handelt, der etwa zwanzig Jahre nach Christi Tod in Jericho auf Maria Magdalena gestoßen war und ihre Lebenserinnerungen - neben seiner eigenen Geschichte - aufgezeichnet hat. In diesen Anfangstagen war ich beim Übersetzen selten allein. Um bei Außenstehenden nicht Verdacht zu erregen, fertigte ich meine Übersetzungen abends ´beim gemütlichen Zusammensein´ an, wo wir die Büroarbeit und die Feinarbeiten erledigten. Du kennst das ja von Deinen eigenen Ausgrabungszeiten.

Du wirst Dir vorstellen können, welche Diskussionen bei uns ausbrachen. Wir stritten um die Echtheit der Rollen, um ihre Datierung - und vor allem um die Glaubwürdigkeit dieses Yoram bar Am. Konnte man ihm glauben, oder hatte er sich alles aus den Fingern gesogen? War er vielleicht selbst auf eine Schwindlerin hereingefallen? Für mich selbst wurden diese Formalien allerdings bald immer unwichtiger, denn ich war schon viel zu fasziniert vom Inhalt der Texte und von dem, was sie in mir auslösten. Ohne es gleich zu merken, geriet ich zunehmend in die Rolle des Außenseiters. Irgendwann fiel es selbst mir in meinem Entdeckerrausch auf, daß die anderen kaum noch an den Inhalten und den theologischen Konsequenzen interessiert waren, sondern nur noch an deren taktischer Behandlung. Während ich mich fragte, was die Berichte der Rollen für mich und meinen Glauben bedeuten, fragten sie, ob diese Berichte gut oder schlecht für unseren Glauben, für die Gläubigen und die Kirche seien. Sie fingen an, mich zu meiden. Gespräche verstummten, wenn ich zu ihnen trat.

Sie fragten mich nicht mehr nach meinen Übersetzungen - als sei es gefährlich, mit den Worten der Rollen in Berührung zu kommen. Sie wollten mit den Inhalten nichts mehr zu tun haben. Rom sollte entscheiden. Es war, als sei ihre wissenschaftliche Ausbildung wie Lack von ihnen abgeplatzt, und zum Vorschein kamen mittelalterliche Menschen - voller Angst um ihren Glauben und ihre Seligkeit. Eines Tages fing ich an, die geheimen Abschriften von den Rollen anzufertigen. Wir hatten keinen Fotokopierer - und wenn, hätte ich ihn nicht benutzen können. Es war kein bewußter Entschluß - mehr eine innere Notwendigkeit. Die Rollen, ihre Texte, ihr Evangelium schienen mir bedroht, obwohl kein konkreter Anlaß gegeben war. Ich glaubte weder damals noch heute, daß man die Rollen vernichten wollte und mit ihnen ihren gefährlich-unliebsamen Inhalt. Aber man konnte sie in den Mauern des Vatikan verschwinden lassen, wo kein Archäologenteam sie je wiederfinden würde. Man konnte sie totschweigen oder durch eine neue Übersetzung so ´redigieren´, daß ihr Text sehr viel kirchenfreundlicher ausfallen würde. Anfangs hatten sie auch mit mir in dieser Weise diskutiert: Ob das wirklich so dastünde, ob man es nicht ganz anders übersetzen könnte und müßte etc. Ich mußte den originalen Text der Rollen retten. Ich arbeitete die Nächte durch. Abends die offizielle Übersetzung, später die einsame ´Kontrollübersetzung´, die in Wahrheit das Abschreiben der hebräisch/aramäischen Originale war.

Als ich gestern nach Amman fahren wollte, um einen guten Freund zu treffen, der gerade in Jordanien unterwegs ist, hielt man mich mit vorgeschobenen Gründen fest. Nicht daß man mich einsperrte oder mir direktes Redeverbot erteilte, man gab mir nur einen deutlichen Wink. Ich fürchtete das Schlimmste, wenn ich an die Rollen dachte. Denn sind sie einmal im ´Hort der Kirche´ verschwunden, kann ich in der Öffentlichkeit alles über sie erzählen - mich wird man dann als Rebellen und Häretiker abtun, der zuviel Phantasie entwickelt, sich ruhmsüchtig in den Vordergrund drängelt und keinerlei Beweise für seine Behauptungen vorlegen kann.

Aber Gott scheint für die Rollen und nicht für seine treue Kirche zu sein. Wenn ich nicht mehr in die Welt darf, kommt die Welt in die Wüste zu mir und zu den Rollen. Heute morgen tauchte plötzlich ein Journalist auf, jung, unbedarft, eine faszinierende Mischung aus Naivität und Gerissenheit - ein Amerikaner, was sonst! Er schien sich in Amman zu langweilen, wollte einen kleinen Ausflug übers Land machen und benutzte unsere Ausgrabungen als Vorwand für seinen Besuch. Er stolperte direkt in meine Arme. Die anderen waren alle draußen im Feld, so konnte ich ungestört mit ihm reden. Wir haben einen Handel geschlossen: Er schmuggelt meine Abschriften aus dem Lager und schickt sie an dich - und ich gebe ihm die Story seines Lebens. Damit schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe. Die Abschriften kommen auf sicherem Weg zu Dir, und die Öffentlichkeit wird dafür sorgen, daß die Rollen nicht in der kirchlichen Versenkung verschwinden. Ich fürchte nur, daß wir bald sehr viel zu dementieren haben werden. Genau wie der Vatikan, wenn auch aus anderen Gründen. Denn der junge Harris hat von Archäologie keine Ahnung, und die Anfänge des Christentums sind ihm so nah und fern wie die letzte Eiszeit. Alles, was er verstand oder in seiner Aufregung über die ´unglaubliche Story´ verstehen wollte, war: Fund, Schriftrollen, Maria Magdalena - also ´Das Evangelium der Maria Magdalena´! Ich berichtigte ihn, versuchte ihm klarzumachen, daß nicht Maria Magdalena selbst, sondern Yoram ihre Lebensgeschichte aufgezeichnet hatte - noch dazu zwanzig Jahre nach Jesu Tod. Er machte sich Notizen, hörte aber kaum noch zu. Mit seinen Gedanken war er schon beim Abfassen seiner Meldung, die er jetzt - mir schräg gegenüber - in seinen Notebook tippt. Währenddessen habe ich gerade noch Zeit, Dir diesen Brief zu schreiben.

Liebe Yael, ich habe in diesen Tagen oft und lange über uns nachgedacht. Was du mir bedeutet hast und noch bedeutest - und warum ich damals ohne ein Wort abgereist bin. Hast Du mir je verzeihen können? Ich möchte Dich gerne wiedersehen und mit Dir sprechen. Ich hoffe, Du hast die Tür noch nicht ganz zugeschlagen. Es hat sich vieles bei mir verändert. Die Schriftrollen haben mich verändert. Und doch mußte ich damals vor Dir fliehen. Damals konnte ich nicht anders handeln. Ich mußte wählen: zwischen Dir und meinem Glauben. Heute scheint dieses strenge Entweder-Oder zu verschwimmen und sich aufzulösen. Ich muß mir noch über vieles klar werden. Ich habe in Yoram Bar Am einen Bruder gefunden, einen Bruder über die Zeiten hinweg, der mir näher steht als viele Menschen um mich herum.

Ich bleibe noch ein paar Tage hier, um den Sturm zu erwarten. Ich fürchte mich mehr vor dem Eiswind, der von der anderen Seite kommen wird. Ich werde bald ein Ausgestoßener und Heimatloser sein. Heimat war mir bisher immer die Kirche. Aber ich kann nicht mehr zurück.

Ich muß den Brief beenden. Harris drängt auf die Abfahrt und hat schon demonstrativ seinen Landrover gestartet. Ich habe viel ausführlicher geschrieben, als ich eigentlich vorhatte.

Ich werde mich als ´Hans Groot´ bei meiner verheirateten Schwester in einem kleinen Dorf in Deutschland verkriechen. Bitte bestätige den Empfang der Abschriften und sende mir Fotokopien. Und bitte lasse mich wissen, wie es Dir geht. Meine Adresse: Hans Groot, Postlagernd, D-35305 Göbelnrod bei Grünberg, Germany.

Schalom, Dein Ali

P.S. Göbelnrod liegt nur eine knappe Autostunde von Frankfurt und seinem Flughafen. Ich freue mich, wenn auch Du mich wiedersehen willst."

*****

Brief der Yael Atzmany aus Berkeley, USA an
Hans Groot, Postlagernd, D-35305 Goebelnrod bei Gruenberg, West Germany, vom 6. Mai ...

"Lieber Hans-Ali,

Deine Abschriften sind wohlbehalten hier angekommen. Ich habe mich hingesetzt und gelesen und gelesen und erst aufgehört, als ich durch war. Unglaublich - der Fund, die Rollen, der Inhalt. Du hast phantastische Arbeit geleistet. Nicht auszudenken, wenn die Schriftrollen nie entdeckt oder gleich wieder ´verschwunden´ wären. Ich bewundere Deinen Mut. Ich weiß, was Dich das alles gekostet hat. Hoffentlich hast Du den Medientrubel inzwischen gut überstanden. Selbst hier lauern schon Reporter - jeder Theologe, jeder Religionsgeschichtler, jeder Semitist, jeder Archäologe mit Spezialgebiet Palästina wird für sie zur Honigbiene.

Auch ich möchte Dich sehr gerne wiedersehen. Aber erwarte nicht zuviel von mir. Vier Jahre sind eine lange Zeit.

Ich komme im September zum Kongreß ´Frühchristentum in Palästina´ nach München. Du und Deine Rollen werden dort sicher ganz im Mittelpunkt stehen. Ich kann Dich aber auch gerne in Deinem Dorf besuchen. Ich hoffe, daß ich bis dahin eine gute Rohübersetzung fertig habe, die dem Kongreß vorlegen kann. Schreibe mir, ob Dir der Termin paßt. Ich freue mich auf unser Wiedersehen.

Ich umarme Dich,

Deine Yael

P.S. In der Mischnah, Sanhedrin, gibt es eine wunderbare Stelle, die sinngemäß so lautet:

´Wenn einer einen einzigen Menschen getötet hat, so ist es, als ob er eine ganze Welt getötet hat. Wenn einer einen einzigen Menschen gerettet hat, so ist es, als ob er eine ganze Welt gerettet hat.´

Jetzt möchte ich mit Mirjam und Yoram den Spruch erweitern: ´Und wenn einer einen einzigen Menschen liebt, so ist es, als ob er eine ganze Welt liebt´."


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