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WEB-Tagebuch Regina Berlinghof

September 2003
30.9.2003
Sonne und Nebel
Heute morgen war die Einfahrt nach Frankfurt bühnenreif: 
Erst glühte die rote Sonne durch das Geäst der Bäume und zwischen den noch grünen Baumkronen. Unten, in der Rhein-Mainebene warf die nahe Nidda ihre Nebel aus und hüllte die Landschaft in graue Schleier. Kurz vor Erreichen der Stadt wurde die Sonne stärker. Von unten glomm plötzlich hell-rosiger Schein durch die Nebel, der wie eine durchsichtiges Gasgemisch diffus zu leuchten anfing. Der ganze Himmel leuchtete, lebte, schwebte, als hätte sich die Sonne verströmt  und bestürzend schön in den abertausend Wassertröpfchen aufgelöst. 
So strahlen in einem gigantischeren Ausmaß junge Sterne durch die Materienebel des Weltraums. So müssen heißglühende Feuerschleier durch den Weltraum rasen, wenn ein Stern am Ende seines Daseins in einer Supernova stirbt. Für den, der es sehen kann, ohne in Mitleidenschaft gezogen zu werden, muß es ein phantastisches Spektakel sein. Die atemberaubend leuchtenden Wasserschleier heute morgen gaben eine Ahnung, was noch sein könnte.
27.9.2003
27 israelische Piloten
Meine Hochachtung gilt den 27 israelischen Kampfpiloten, die die "vorschriftswidrigen und unmoralischen Angriffe gegen palästinensische Gebiete" wie sie zur Zeit ausgeführt werden, ablehnen. Sie wollen nicht mehr gegen "zivile Bevölkerungszentren" fliegen und nicht weiter "unschuldige Zivilisten töten". 
Heute in der FAZ die Meldung, daß sieben Piloten aus der Armee entlassen wurden, die anderen suspendiert.
Scharon unterstellt den Dissidenten, daß sie den "Staat stürzen" wollten! Scharons Größenwahn: "L'état c'est moi" und: "Jeder Widerspruch ist ein Angriff auf mich". Aber das ist ja die Neudenke vieler Politiker, Militärs und Manager.
24.9.2003
Kopftücher, Piercing, Steuern, Eigentum
Na also, das Tragen eines Kopftuches ist nicht verboten. Auch nicht das Kopftuch einer Lehrerin im Unterricht. Solange diese nicht antidemokratischen religiösen Fundamentalismus verbreitet - ob muslimisch, christlich, jüdisch oder sonstwie.
Werden eigentlich Lehrer eingestellt, die sich Lippen, Nase und sonstige Körperteile piercen? Was für eine Ideologie verbirgt sich hinter dem Zerstechen des eigenen Körpers? Masochismus? Und dann mit sowas im Kopf unterrichten dürfen? Wo sind die Grenzen?
Auch die Steuerpolitik der jetzigen Regierungs-Laienspielschar mutet dem Steuerzahler ein Gutteil Masochismus zu. Steuererhöhungen überall, die Kilometerpauschale soll auf 15 Cent gesenkt werden. 
Aber Riesenerbschaften unterliegen einer lächerlichen Erbschaftssteuer - die europäischen Nachbarn schlagen ganz anders zu. Und wenn ein Reicher seine Aktien ruhen und wachsen läßt, streicht er den Gewinn nach einem Jahr steuerfrei ein. 
Und zum Abschluß: Hat die neue Raubritterklasse der Millionenabfindungsmanager einmal Artikel 14 des Grundgesetzes gelesen? Dort steht: in Absatz 2: "Eigentum verpflichtet.  Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen."
14.9.2003
Musikalische Sternstunde
Heute im Frankfurter Museumskonzert, Alte Oper. Julia Fischer spielte das Brahms-Violinkonzert. 
Die Orchestereinleitung unter Paolo Carignano begann unkonzentriert, mitten ins noch unkonzentriertere, hustende Publikum. Die Streichersequenzen kurz vor dem Einsatz der Solistin ließ er herunternudeln. Handwerklich korrekt - aber eben nur Handwerk.
Und dann setzte Julia Fischer ein. Ein energischer Bogenstrich der jungen Frau, warm, intensiv, beseelt - wie aus einer anderen Region. Sie riß Orchester und Dirigenten mit. Eine Solistin, deren Spiel Orchester und Publikum auf einen Schlag beherrschte, ohne dominieren zu wollen. Ihr Spiel ließ die Geige singen, brachte die Töne und die Brahmssche Musik zum Blühen. Ihr ergreifendes Spiel trieb mir die Tränen in die Augen. Eine der ganz seltenen Sternstunden im Konzertsaal. 
Nachtrag vom 27.10.2003:
Mehr zu Julia Fischer auf ihrer Homepage: www.juliafischer.com
13.9.2003
Was ist Wahrheit? - fragte schon Pilatus
Was ist z.B. die Wahrheit der Musik? Gibt es unwahre Musik?
11.9.2003
11. September - Zwei Jahre danach
Vor zwei Jahren brachen die Flugzeuge der al-Quaida über New York und die Welt herein. Was wußten wir von der al-Quaida? Die meisten nichts. Etwa ein Jahr zuvor machte mich ein junger marokkanischer, fundamentalistisch angehauchter Student auf diese Gruppe und ihre Webseite aufmerksam. Ich surfte sogar dorthin, fand alles ziemlich martialisch und surfte weiter. Es ging dort nicht um den Krieg gegen Amerika oder um Afghanistan - es ging um den Krieg in Bosnien und in Tschetschenien. Um die Hilfe für die muslimischen Kosovaren, Bosnier, Tschetschenen, die Europa und die westliche Welt im Stich gelassen hatte. Von Amerika war meiner Erinnerung nach damals noch nicht die Rede.

Als die Serben unter Milosevic auf nationalen Kurs gingen und die  Rechte der zwei autonomen Provinzen (Kosovo, Vojvodina) aufhoben, schwiegen die europäischen Regierungen. Als die Slowenen und Kroaten aus dem Staatenbund ausscherten, interessierten sich die europäischen Regierungen kaum für ihre Gründe - ihnen lag daran, die Stabilität Jugoslawiens zu erhalten - egal unter welchem Regime. Die Unterdrückung der Kosovaren, die Schließung ihrer Universitäten und Schulen wurde in Kauf genommen. Stabilität ging vor Menschenrechte. 
Im Krieg der serbischen Zentralregierung gegen die "abtrünnigen Provinzen" hielten sich die europäischen Staaten vornehm zurück. Ebenso im Krieg gegen die Kosovaren und Bosnien. 
Das gleiche Spiel später, als sich die Tschetschenen von der russischen Zentralregierung lösten. Niemand kam ihnen zu Hilfe. Europa wollte äußere Stabilität vor Freiheit und Selbstbestimmung der Völker.
Die Muslime fühlten sich von allen im Stich gelassen. 
Man könnte auch sagen: al-Quaida (finanziert von Saudi-Arabien) war auch die Antwort auf europäisches Stillschweigen und Stillehalten. Amerika griff schließlich in den Bosnienkrieg ein. Aber Tschetschenien und Rußland überließen die Amerikaner sich selbst. Radikalität ist die Antwort der Verratenen. 
Wie sagte damals der Student: "Die tun was! Die kämpfen wenigstens!"
 

9.9.2003
Mischna und Pontius Pilatus, der Judenhasser - Der Prozeß Jesu und  Mel Gibsons Film
Heute wurde mein Tagebucheintrag/Leserbrief vom 21.8.03 zum Artikel des Heidelberger Theologen Klaus Berger abgedruckt. Berger schrieb über die religionsgeschichtliche Hintergründe des Prozesses gegen Jesus anläßlich Mel Gibsons Jesus-Film („Pilatus heißt die Kanaille“). Seine Anmerkungen zur Mischna und den Regeln der Prozeßführung reizten mich zum Widerspruch.
Ein anderer Leser, Dr. jur. Joachim Barnewitz, schrieb ebenfalls zu dem Artikel (FAZ vom 2.9.03). Ihm mißfiel, daß Pontius Pilatus als Judenhasser dargestellt wurde, was die Evangelien nicht hergeben würden.
Mein Leserbrief dazu:

Sehr geehrte Damen und Herren, 
in seinem Leserbrief widerspricht  der Verfasser der Darstellung des Neutestamentlers Klaus Berger vom 21.8., Pilatus sei ein Judenhasser gewesen und habe ein "hämisches Eigeninteresse an der Kreuzigung Jesu" gehabt. In den kanonischen Evangelien könne er für diese Behauptungen keine Belegstellen finden.
Nun, die Evangelien sind keine historisch-ambitionierten Werke, sondern verstehen sich als Berichte von Gottes Heilsplan und der Erlösung der Menschen durch Jesus Christus. Pilatus spielt in diesem Heilsplan eine gewisse Rolle – aber nur in Bezug auf Jesus ist er wichtig. Was er darüber hinaus getan und wie er geherrscht hat, ist für die Evangelisten uninteressant. Bei Lukas 13,1 findet sich allerdings der Vers, der von einem Blutbad berichtet, das Pontius Pilatus unter Pilgern aus Galiläa anrichten läßt.
Sehr viel ausführlicher schildert sein Wirken der jüdische Geschichtsschreiber Josephus Flavius in den Jüdischen Altertümern (18. Buch, Kap. 3 und 4): 
Pontius Pilatus nahm als Statthalter keinerlei Rücksichten auf die religiösen Empfindungen der Juden, sondern demonstrierte römischen Machtwillen. Kurz nach seinem Amtsantritt provozierte er einen Fastaufstand, als er die römischen Feldadler mit dem Bild des Kaisers nach Jerusalem bringen ließ und gegen alle Bitten und Vorhaltungen bewußt die Mißachtung des jüdischen Bilderverbotes in Kauf nahm. Später konfiszierte er Teile des Tempelschatzes und finanzierte damit eine Wasserleitung nach Jerusalem. Es kam zum Aufruhr, den er blutig niedermetzeln ließ. Später ließ er – gegen die bisherige Praxis – Münzen mit dem Bildnis des Kaisers Tiberius prägen, wieder ein unerträglicher Verstoß gegen das Bilderverbot der Zehn Gebote. Kurz, er führte sich auf wie ein Elefant im Porzellanladen – allein der römischen Macht und Kultur verpflichtet. Eine Parallele zu heute: Man stelle sich vor, Präsident Bush wollte Kirchenglocken in den Moscheen der heiligen Stadt Nadschaf oder Mekka anbringen lassen. Oder der saudische König wollte ein Minarett vor dem Vatikan errichten. 
Gegen Pontius Pilatus wurden immer wieder Beschwerden in Rom vorgebracht. Als er auch brutal gegen die Samaritaner vorging und die Verhältnisse in Rom sich gewandelt hatten, wurde er 36 n.Chr. nach Rom abberufen, um sich dort zu verantworten. 
 

   
   
   
 
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