Regina Berlinghof:

Das Opfer

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Das Opfer - 03
 

Irgendwo mußte ein Fenster offenstehen oder war von selbst aufgegangen. Sie eilte in Daniels Zimmer. Daniel war gegen Zug noch sehr empfindlich. Sie war erleichtert, als sie das Fenster in seinem Zimmer geschlossen fand. Sie beugte sich über sein Bettchen und erstarrte. Er war nicht mehr da. Nein, das konnte nicht sein, sie hatte sich getäuscht! Sie langte in das Bett und griff ins Leere. Dann stürzte sie zum Lichtschalter - das Licht bestätigte ihr nur, was sie nicht wahrhaben, nicht hatte glauben wollen. Sie schrie nach Daniel - und wußte nur zu gut, daß er noch zu klein war, um das Bett selbständig verlassen zu können. Sie rannte durch das ganze Haus - von Daniel keine Spur. Auch sonst war kein Fenster geöffnet, die Tür war noch verriegelt. 

Die schreckliche Wahrheit durchtränkte allmählich ihr Bewußtsein, bis sie schließlich sehen und fassen konnte, daß sie nicht halluzinierte und nicht unter Sinnestrübungen litt. Als ihr nichts als die Erkenntnis übrig blieb, daß ihr Kind wirklich und tatsächlich verschwunden war, blendete eine überklare und energiegeladene Wachheit in ihr auf und schob die zitternde Angst in einen dunklen, nicht mehr wahrnehmenbaren Winkel. Es war wie an einem eisig-sonnigen schneebedeckten Wintertag bei Ostwetterlage: der Wind hatte Wolken, Staub und Smog davongeweht. Auf freiem Land ging die Sicht kilometerweit. Boden, Himmel leuchteten so intensiv in der frostigen Luft als seien sie von einer südlichen Sonne beschienen. Aber die Farben waren trügerisch, denn draußen schnitt die Kälte scharf ins Gesicht, und der Tod lauerte auf Menschenfleisch, wenn man die bloße Haut nicht schützte und wärmte. In dieser frostig klaren, luziden Wachheit rief sie bei dem Fernsehsender an und verlangte ihren Mann. Sie waren schon in ein Weinlokal abgezogen. Aber jemand im Studio konnte ihr noch den Tip geben, wohin sie gegangen waren. Sie erreichte ihn dort. "Daniel ist fort - ich rufe jetzt die Polizei an. Komm nach Hause!" Sie sprach so klar und bestimmt, daß Jürgen nicht nachfragte oder nähere Erklärungen wünschte. Unter einem Vorwand verabschiedete er sich von den Fernsehleuten und fuhr nach Hause. Als er ankam, war die Polizei schon eingetroffen. 

Die Fakten waren bestürzend. Der knapp einjährige Daniel war aus der Wohnung verschwunden, ohne daß es sichtbare Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen von außen gab. Frau Siebert hatte das Kind zuletzt ruhig schlafend in seinem Bettchen gesehen, bevor sie sich zum Fernsehen gesetzt hatte. Die ganze Zeit über hatte sie sich im Raum neben dem Kinderzimmer befunden und nichts Auffallendes oder Besorgniserregendes gehört. Alle Fenster und Türen des Siebertschen Hauses waren verschlossen. Es war unmöglich, daß der kleine Daniel selbst sein vergittertes Kinderbett verlassen, zur Haustür gekrochen - und dann von selbst - welch absurde Vorstellung! - sich zur Verriegelung aufgerichtet oder emporgezogen hatte, um sie aufzudrehen, dann die Klinke nach unten zu drücken und schließlich nach draußen zu entwischen. Trotzdem begann eine Suchmannschaft sofort, die nähere Umgebung nach dem Kind abzusuchen. Spezialisten der Spurensicherung wurden umgehend beim Bundeskriminalamt angefordert. Die exponierte Stellung Professor Sieberts und sein Eintreten für Tierversuche ließ an die Tat eines rachsüchtigten Tierschützers denken. Natürlich wurde auch das persönliche Umfeld der Eheleute Siebert durchleuchtet. Es gab vier Schlüsselbunde für das Siebertsche Haus. Je einen hatten die Eheleute, einen hatte man der Schwester von Frau Siebert zur Aufbewahrung gegeben, und einer hing als Reserve im Schlüsselkasten. Die Nachforschungen bei der Schwester oder bei Nachbarn ergaben keinerlei Verdachtsmomente. Der Reserveschlüssel hing da, wo er immer hing. Keiner der Schlüssel wies Anzeichen dafür auf, daß er zum Anfertigen von Nachschlüsseln behandelt worden war. Frau Siebert hatte im Verlauf der Fernsehsendung zweieinhalb Glas Rotwein getrunken, die aber keine nachteiligen Auswirkungen zeigten. Auf die Polizeibeamten machte Frau Siebert den Eindruck einer innerlich zitternden und nervösen, insgesamt aber doch gefaßten Frau, die ihre Nerven beieinander halten konnte. 

Die nächtlichen Ermittlungen erbrachten keinerlei Hinweise für den Verbleib des kleinen Daniel. Die Polizei wartete auf den Anruf der Entführer. Aber kein Anruf kam. Die Auswertungen der Spurensicherung bestätigten den äußerlichen Eindruck: es gab keine Spuren eines gewaltsamen Eindringens. Nicht durch die Tür und nicht durch die Fenster. 

"Und was war mit dem kalten Luftzug?" fragte Frau Siebert verzweifelt immer wieder. Aber niemand konnte, niemand wollte ihr eine Antwort darauf geben. Fotos von dem kleinen Daniel gingen in den folgenden Tagen durch die Presse und wurden in den Fernsehnachrichten gezeigt.

"Ich verstehe das nicht," sagte Polizeioberkommissar Reuter zu seinem Vorgesetzten. "Normalerweise gehen in einem solchen Fall haufenweise Hinweise aus der Bevölkerung ein. Aber in meinem ganzen Berufsleben habe ich noch keine solche Funkstille erlebt." Es gab niemanden, der bei einem Bekannten oder bei Freunden ein Kind gesehen hatte, das es vorher bei ihnen nicht gab. Keiner der Nachbarn hatte etwas Verdächtiges um das Siebertsche Haus an dem Abend des Verschwindens bemerkt. Es gab auch keine offenen oder anonymen Anzeigen, die das friedlich-harmonische Eheleben der Sieberts in Zweifel zogen. Die beiden waren sich anscheinend sogar treu. Die Polizei suchte und spürte nach allen Richtungen, aber von nirgendwoher kam ein Echo, das anzeigte, daß sie fündig geworden waren. Wie im Nebel endeten die Spuren immer da, von wo sie ausgegangen waren. Keine führte weiter. 

Oberkommissar Reuter mußte den verzweifelten Eltern die Erfolglosigkeit der Ermittlungen eingestehen. Es gab nichts, womit er sie trösten, womit er ihnen Hoffnung geben konnte. "Wir können nur abwarten und hoffen und beten, daß der Kleine wohlauf ist und sich so unversehens sich wieder bei Ihnen einfindet, wie er verschwunden ist. Wir werden weiter jede neue Spur, jeden neuen Hinweis aufgreifen und überprüfen. Aber vorläufig sind wir an einem toten Punkt angelangt." 

Er ging und ließ die Eltern in ihrem Schweigen zurück.
 

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