Regina Berlinghof:

Das Opfer

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Das Opfer - 04
 

Das Gespräch zwischen den beiden Eheleuten war fast verstummt, seitdem Daniel verschwunden war. Es beschränkte sich auf die kleinen alltäglichen Notwendigkeiten. Über das, worüber ihre Gedanken ständig und zwanghaft kreisten, sprachen sie kaum, und wenn, dann nur in Andeutungen und beschönigenden Umschreibungen. Wie auf ein Signal schreckten sie beide davor zurück, ihre Angst, ihre Verzweiflung in Worte zu fassen. Als würde nur ein Wort den Damm zum Überlaufen und vielleicht zum Einsturz bringen, versuchten sie, sich durch das Schweigen aufrecht zu halten, die Fassung zu wahren und die Hoffnung nicht zu verlieren. 

"Beten!" stieß Professor Siebert bitter aus. "Wenn die Polizei nicht weiter weiß, rät sie zum Beten! Ich gehe ins Labor. Die Arbeit ist jedenfalls nicht davongelaufen." 

Er ging, wie er jeden Tag gegangen war. Der Weg ins Labor, das Labor selbst, war sein Halt. Die Arbeit hielt die die quälenden Gedanken fern und gab ihm das Gefühl, etwas tun zu können. Denn wenn er nichts tat, nicht handelte - dann blieb ihm nur übrig, in das schwarze Loch hilfloser Ohnmacht zu blicken. Und zu der Ohnmacht, für seinen Sohn nichts tun zu können, gesellte sich nun auch noch die Hilflosigkeit der Polizei, die die bisher nur persönliche Ohnmacht in absolute Machtlosigkeit verwandelte. Siebert schauderte unwillkürlich vor diesem Abgrund zurück. Er arbeitete noch mehr als früher. Hier konnte er wenigstens etwas Sinnvolles tun. 

Anja Siebert hörte die Tür zuschlagen. Dann war sie mit ihren Gedanken allein. Sie dachte darüber nach, ob sie beten sollte. Sie war nicht religiös. Während des Studiums war sie aus der Kirche ausgetreten. Gott, Kirche, Gebet - das waren Worte, die nichts in ihr auslösten. Sie konnte sich Gott nicht als den rauschebärtigen Alten der Kinderzeit vorstellen - und zu einem Kantschen Ding an sich kann man nicht beten. Es war ihr überhaupt unvorstellbar, daß eine Art Person die Welt geschaffen haben sollte - denn Gott mußte doch eine Art Person sein, wenn man ihn (oder sie?) mit "Du" anreden konnte. Sprechen, bitten - das tat man nur zu einem anderen, einem Gegenüber. Aber dieses Gegenüber, das Gott sein sollte, hatte in ihrem Leben keine Rolle gespielt - und es hatte sich auch nicht ausgewirkt. Warum sollte sie Gott bitten, daß er ihr Daniel zurückgebe? Wenn Gott so allmächtig und allgütig war, wie es immer hieß, dann hätte er ihn erst gar nicht verschwinden lassen dürfen! Nein, zu einem solchen Gott konnte und wollte sie nicht beten. 

 Aber ein anderes Wort Kommissar Reuters war ihr nachgehallt: unversehens. Ja, Daniel war unversehens verschwunden - so unversehens, als sei er wirklich unsichtbar geworden und aus der Wohnung geschwebt. Anja schauderte - und dachte wieder an den kalten Luftzug. Das ließ sie sich nicht ausreden - daß dieser kalte Luftzug mit der Entführung zusammenhing. Aber wie und warum, das sah und verstand sie nicht.

Wann die Träume begonnen hatten, konnte Anja im Nachhinein nicht mehr festmachen. Es war ja auch kein Wunder, daß sie in dieser Situation unter Schlafstörungen litt und von Alpträumen heimgesucht wurde. Die ersten Nächte hatte sie ein Schlafmittel genommen. Aber morgens wachte sie zerschlagen auf und war müder, als sie zu Bett gegangen war. Sie setzte die Tabletten ab und stellte sich der Schlaflosigkeit und den Träumen. Zuerst hörte sie nur Daniels Weinen. Ein Weinen, das in ängstliches Wimmern überging. 
 

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