Regina Berlinghof:

Das Opfer

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Das Opfer - 05
 

Wann die Träume begonnen hatten, konnte Anja im Nachhinein nicht mehr festmachen. Es war ja auch kein Wunder, daß sie in dieser Situation unter Schlafstörungen litt und von Alpträumen heimgesucht wurde. Die ersten Nächte hatte sie ein Schlafmittel genommen. Aber morgens wachte sie zerschlagen auf und war müder, als sie zu Bett gegangen war. Sie setzte die Tabletten ab und stellte sich der Schlaflosigkeit und den Träumen. Zuerst hörte sie nur Daniels Weinen. Ein Weinen, das in ängstliches Wimmern überging. Sie schreckte hoch. Ihr Herz schlug bis in den Hals. Erst als sie sich beruhigend einredete, daß sie nicht in Wirklichkeit Daniels Stimme gehört, sondern daß ihre Angst diesen Alptraum produziert hatte, konnte sie wieder einschlafen. Ein paar Tage später träumte sie, daß Daniel weinend nach ihr rief. Er schien große Angst zu haben. Irgendwie hatte sie den Eindruck, daß er in einem kleinen dunklen Raum eingesperrt war - ein Raum, der mehr einer Kiste glich. Als sie ihrem Mann davon erzählte, zuckte er die Achseln und redete von typischen Angstträumen. Anja bestand darauf, den Traum der Polizei zu melden. 

Oberkommissar Reuter hörte sich ihren Traum geduldig an. "Zu neunundneunzig Prozent ist es ein Traum, der nichts zu bedeuten hat," sagte er. "Zu einem Prozent besteht vielleicht die Wahrscheinlichkeit, daß es ein Wahrtraum ist. Es hat Fälle gegeben, wo mediale Menschen uns weiterhelfen konnten. Wir hängen das nicht an die große Glocke. Wir kämen vor lauter hilfswütigen Scharlatanen nicht mehr zu unserer eigentlichen Arbeit. - Nur," schränkte er sofort ein, als er Anjas Augen in neuer Hoffnung aufglänzen sah, "nur ist Ihr Traum, selbst wenn er "hellsichtig" wäre, zu vage und gibt zu wenige äußere Anhaltspunkte, daß wir damit etwas anfangen können."

Der Hoffnungsschimmer in Anjas Augen erlosch. Kommissar Reuter wußte nicht, ob er jetzt etwas Falsches und gegen alle Polizeiregeln Widriges sagte, aber er wollte der Frau helfen und Mut zusprechen: "Achten Sie weiter auf Ihre Träume - vielleicht werden sie ja konkreter. Wenn Sie ein Bild von der äußeren Umgebung bekommen, können wir Ihnen vielleicht weiterhelfen."

In der folgenden Nacht hörte sie wieder das unerträgliche Weinen ihres Kindes. Wieder war es mit dem Eindruck der Dunkelheit, des Eingesperrtseins und Verlassenseins verbunden. Als Anja aus dem Schrecken erwachte, konnte sie sich an kein genaueres Bild einer Umgebung erinnern. Sie meinte aber, einmal eine helle große Gestalt gesehen zu haben, die um ihren Jungen strich. In der übernächsten Nacht wiederholte sich der Traum - nur daß auf einmal die helle Gestalt auf sie zukam. Das Aussehen dieser Gestalt war unklar, ihre Konturen verschwommen. Nur als sie näherkam, verströmte sie eine solch furchtbare Kälte und ein  namenloses Grauen, daß Anja in kalten Schweiß gebadet aufwachte. Der Traum hielt sie den ganzen Tag gefangen. Sie fürchtete sich vor der kommenden Nacht. Aber sie war fest entschlossen, dieser Gestalt standzuhalten und herauszufinden, was sie von ihr - und von Daniel wollte. Doch als sich die Gestalt wieder näherte, und panische Angstwellen Anja zu überfluten drohten, wachte sie mit einem Schrei auf. Ihr Schrei hatte sogar ihren Mann geweckt, der einen gesunden Schlafmittelschlaf neben ihr schlief. Er nahm sie geduldig in die Arme. Aber Anja war es unmöglich, ihm von dem Traum und von dem entsetzlichen Grauen, das die Gestalt verbreitete, zu erzählen. Fast noch mehr fürchtete sie die üblichen Trostworte, die er ihr geben würde, bei denen sie sich wieder wie ein weinendes Kleinkind vorkam, das von den Eltern wegen einer Nichtigkeit getröstet werden mußte.

 Erst in der vierten Nacht brachte sie es fertig, die Terrorgestalt zitternd zu fragen: "Was willst du?" Aber noch bevor die Gestalt antworten konnte, war sie wieder in panischer Angst aufgewacht. Anja Siebert wußte nicht mehr, wie sie die Tage verbringen sollte. Das bißchen Haushalt war zu schnell gemacht. Zum Lesen konnte sie sich nicht mehr konzentrieren. Selbst die Ablenkung durch den Fernseher half nicht mehr. Ihre Schwester, die sie anfangs täglich besucht hatte, war in ihren Alltag zurückgekehrt. Sie telefonierten häufig. Anjas Freundinnen riefen nicht mehr ganz so oft an. Sie hatten Scheu, das Thema anzusprechen, an das sie doch immerfort denken mußten. Sie versuchten, Anja zu zerstreuen. Anja hatte sich das anfangs gerne gefallen lassen. Aber seit den Träumen wollte sie sich nicht mehr ablenken lassen. Warum sollte sie sich von dem Wichtigsten, das sie und ihr verschwundenes Kind betraf, ablenken lassen? Nach dem Gespräch mit Oberkommissar Reuter sprach sie auch nicht mehr mit ihm über die Träume. Eine unerklärliche Angst hatte sie befallen, die Träume könnten sich auflösen, zerfließen, wenn sie über sie redete. Diese Träume wollten nicht, daß sie über sie sprach. Erst mußte sie sie verstehen. 

In der aufgeräumten und sorgfältig gereinigten Wohnung ging Anja daran, die Bücher in den Regalen zu durchzusortieren. Dann ordnete sie die Schallplattensammlung neu. Schließlich wandte sie sich den Fotoalben zu und klebte die restlichen losen Bilder nach. Es waren meist Bilder von Daniel. Die Babybilder waren schon in einem vollen Album untergebracht. Die letzten zwei Filme, die noch nicht eingeklebt waren, zeigten das Vorstadium des Krabbelalters und Daniels erste Krabbelversuche. Anja saß vor den Bildern. Es waren Bilder wie von einem anderen Stern. Sie erinnerte sich noch genau an die Situationen, in denen sie aufgenommen worden waren. Sie sah sie klar und deutlich vor sich - doch wie durch eine Glaswand. Sie starrte in Daniels Gesicht, das lächelte oder zu einer Grimasse verzogen war. Ewigkeiten saß sie so und starrte. Es dauerte stundenlange Minuten, bis sie ein Bild in das Album geklebt hatte und sich dem nächsten zuwenden konnte. Es war vielleicht das zwanzigste Bild, bei dem ihr der Atem stockte. Das Bild verschwamm vor ihren Augen, ihr ganzer Körper begann zu zittern und zu frieren. Sie konnte nichts mehr erkennen - aber sie brauchte auch das Bild nicht zu sehen. In ihrem Innern sah sie, was auf dem Bild abgebildet war. Es war der Tag gewesen, an dem sie mit Daniel Jürgen im Labor besucht hatte. Die Mitarbeiter ihres Mannes hatten sich um sie und Daniel geschart und den Sohn des Chefs willkommen geheißen. Da sie den Fotoapparat fast immer bei sich hatte, hatte sie ihn herausgezogen und um ein Gruppenbild gebeten. Jürgen hatte Daniel auf seinen Arm genommen und hielt ihn lachend hoch. Ebenso lachend umringten ihn seine Mitarbeiter in ihren weißen Laborkitteln. Aber Jürgen, ebenfalls in seinem weißen Mantel, überragte und überstrahlte sie alle - eine lichte Gestalt, die alles um ihn und neben ihm verblassen ließ.

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